Es ist kurz nach Mitternacht, ein nebuloser Traum
nimmt Gestalt an und veranlaßt mich, das
Bett zu verlassen. Aus dem Nebel entsteigt Walter Bonatti, Heroe
meiner Kinder.-, Jugend.-, Erwachsenen.-, und voraussichtlich auch
Greisenzeit. Er trägt die roten Gamaschen und den weißen
Helm mit dem Kater-Carlo-Abziehbild, unzweifelhaft, dass er es selber
ist! Ich kenne ihn durch die Lektüre seines Buchs "I giorni
grandi", eine Zusammenfassung von alpinistischen Unternehmungen, das
in seiner Erzählweise viel faszinierender ist als jeder
Abenteurroman. Signor Bonatti tritt näher und sagt:"Stefan, dai! Prendi la tua roba e
vieni!" Mechanisch packe ich meine Sachen und begleite Walter.
Wunderbarerweise sind wir - keine Ahnung wie - am großen
Parkplatz auf der Waidringer Steinplatte. Walter, was hast du vor?
Wohin gehen wir? Walter dreht sich um und sagt leise:"È ora che
tu ce la fai ed io ti faccio compagnia..." Ich zittere: der
größte
Bergsteiger aller Zeiten
wird heute beim Versuch im Sleepwalker anwesend sein! Es kann
also gar nichts schief gehen, trotzdem begleitet
mich ein seltsames Gefühl während des gesamten Weges zum
St.Johanner Palven. Gut, dass Sabine, Mascht und Tommi mit von der
Partie sind,
sonst müßte ich glauben, ich träume. |
 |
 |
 |
Walter ist ein bißchen enttäuscht,
denn es tobt kein Schneesturm und wir werden auch
nicht von Seracs bedroht. Aber es ist kalt. Und die Stallenalm hat
geschlossen.
Damit kommt doch noch Dramatik in unser Vorhaben, denn ein
Rückzug zu Kaffe und
Kuchen ist nunmehr unmöglich und uns bleibt
nur die Flucht nach oben. Zwischen Beginn und Ende unserer Unternehmung liegen
nunmehr 4 Seillängen pro Frau und Nase, und das Wetter wird zunehmend
schlechter. Sabine, die sich erstmals auf den tückischen
Querrissen der Steinplatte zurechtfinden muß,
bekommt bald blaue Lippen und ihre Finger werden gefühllos.
Tommi stürzt bei einem Griffausbruch zig Meter in die Tiefe - toprope -
und blutet aus dem Zeigefinger. Sehr gut, die Umstände sind also doch die eines
Abenteuers, ist Walter Bonatti zufrieden!
Einzig Mascht tanzt aus der Reihe: er ist einfach in einer
gewaltigen Form und klettert die "Krückenspiele"
on-sight! Walter ist deswegen aber nicht ungehalten, schließlich
hat Mascht dieses Jahr bereits genug echte
alpine Abenteuer erlebt und darf somit einen ganz normalen Klettertag
verbringen. Wahrscheinlich nimmt Mascht deswegen die Anwesenheit
meines Alpinhelden nicht wahr.
Schließlich bin ich an der Reihe. Walter Bonatti hockt sich auf meine
Schultern und macht sich bereit, Notizen zur Route aufzunehmen: |
 |
 |
 |
...der Einstieg in die Schlüsselpassage
sieht unmöglich aus. Trügerische Risse verheißen
Griffe, wo gar keine sind. Wie die Gesänge der Sirenen locken sie
die Finger an, nur um sie dann an geschlossenem Fels abprallen zu lassen. Aber
die Route durch das Felsenmeer hat sich tief ins Gedächtnis eingegraben
und so falle ich nicht mehr auf
die Verlockung dieser Rissspuren herein. Derweil schieben sich bedrohliche
Nebel über die Steinplatte...
...meine Freunde quittieren jeden gelungen Zug mit einem
"Jawoi Stef!" Tommi wird sich später beschweren, dass die Kletterei
recht unspannend vonstatten geht...
...die kleinen, scharfen Griffe fressen an der Haut wie ein Schwarm Termiten an einem
morschen Stück Holz. Zweimal einsteigen, mehr haben meine wochenweisen Ausflüge zu
dieser Tour nicht erlaubt. Heute aber erweist sich die Felsoberfläche
als ungemein gnädig. Keine Schmerzen, nicht einmal ein Anflug eines cuts
im Zeigefinger ist zu spüren...
...innerlich aufgewühlt stehe ich unter den beiden
letzten schweren Zügen des Sleepwalker und durchlebe noch einmal bange
Augenblicke. Die linke Hand hat den Zangengriff nicht gut getroffen und so
steht es auf Messer's Schneide, ob der Durchstieg gelingt. Ehe der Körper
nach links außen kippt, schnappt die rechte Hand aber schon auf den
kleinen Seitgriff über der Zange. Das Blatt hat sich zu meinen Gunsten gewendet...
|
 |
 |
 |
Erschöpft hocke ich am Boden, geschafft!
Walter Bonatti knurrt zufrieden:"Porco cane,
l'hai fatto bene!" Dankbar für das Kompliment knie ich
nieder und küsse die roten Gamaschen, woraufhin Walter Bonatti
sich sofort im Traum-Nebel auflöst und mich mit einem angetrentzten
Kopfpolster zurückläßt.
Das Schlafwandeln ist zu Ende, die Besessenheit, diese Tour zu klettern
ebenfalls. Es ist Anfang November
und es wäre wohl an der Zeit, der Steinplatte Lebe wohl zu sagen.
Wer mich kennt weiß aber, dass mir letzteres nicht einmal im
Traum einfallen würde! Und schließlich müssen ja auch
meine Freunde noch Projekte hier oben klettern!
|