Silberkristall

Großes Ochsenhorn


Der Grasfleck - grüne Oase im öden Fellerersand - ist nach 2,5 Stunden endlich erreicht.
"Fii vui Gäit tat i des nid mochn, åwa freiwillig scho'!", sagt Hias über unsere Tour heute. Er sagt das beim 2.Bier im Gastgarten des Hüttwirt, wo wir wegen der Metallkonstruktion der Tischfüße unsere Beine nach diesem mörderisch langen und anstrengenden Tag immer noch nicht vollkommen ausstrecken und entspannen können. Nein, angesichts der Strapazen, des lockeren Gerölls, das in kleinen aber stetigen Dosen Steinschlags das Ochsenhorn herunterfällt, der mitunter größeren Hakenabstände und des - vorsichtig formuliert - nicht ausschließlich bombigen Gesteins könnte ein Auftraggeber gar nicht so tief in seine Tasche greifen, wollte er uns beide beispielsweise mit der Aufnahme eines Foto des geheimnisvollen Silberkristalls in dieser gleichnamigen, nicht weniger sagenumwobenen Kletterroute am Großen Ochsenhorn beauftragen. So eine Klettertour tun wir uns nur freiwillig an, und das leidenschaftlich, nachdem wir den "Silberkristall" schon vor vielen Jahren in die Liste unserer Kletter-Lebens-Projekte aufgenommen haben. Dieser Satz stellt für mich in meinem leicht deliriösen Zustand im Hüttwirtsgarten, aber auch später noch mit etwas Abstand und vollkommen nüchtern, eine der philosophischsten Aussagen dar, die ich jemals gehört habe.

Hias sagt noch etwas anderes:"So a Tog is wia a Woch' Urlaub!". Auch darin steckt für den Eingeweihten eine unbestreitbare Wahrheit. Die sich aber frühestens mit einem Tag Abstand als solche erweist. In diesem Augenblick im Gastgarten fühlt es sich nämlich noch nicht wie Urlaub an, sondern eher wie das Ende eines sehr schweren Arbeitstages. Der ganze Tag ist ein Wechselbad der Gefühle.

Hias holt mich um 5 Uhr morgens von daheim ab, auf der Straße sind noch tiefe Lacken vom nächtlichen Regen, damit haben wir nicht gerechnet, aber der Wetterbericht hat für untertags Badewetter angesagt. Eine Kaltfront würde erst in der folgenden Nacht eintreffen und Gewitter am Nachmittag seien eher unwahrscheinlich. Trotzdem möchten wir es nicht darauf ankommen lassen und sind sehr früh unterwegs. Am Parkplatz vom Halserbauer prangt ein Schild: Parken nur für Besucher der Jausenstation, sonst 3€ Parkgebühr. Naja, wenn wir gesund und durstig zurückkehren, werden wir ganz bestimmt Bier im Wert von mindestens der vierfachen Parkgebühr konsumieren. Wir stellen also den Wagen ab, teilen das Material gerecht auf unsere beiden Rucksäcke auf und machen uns auf den gefürchtet langen Marsch Richtung Ochsenhorn Westwand.

Grieseltal, Mairalmscharte, Hirschbadsattel, Fellerer Sand, Einstieg - so lauten die Etappenziele und wir erreichen sie in erstaunlicher Frische. Vielleicht der kühlen Temperaturen wegen, denn der graue Himmel sieht gar nicht so aus, als würde er der Sonne noch Platz machen. Sogar der Fellerer Sand, eine Sandgrube im Verhältnis 3:2 (3 Schritte vor, 2 Schritte zurück), erweist sich heute bis auf die letzten 50 Höhenmeter sehr gnädig. Hias tritt vor mir einen faustgroßen Stein los, ich sehe ihn auf mein Schienbein zukollern. Eins, zwei, drei Sekunden lang, aber ich habe mein Gleichgewicht in diesem Moment so unglücklich aufgeteilt, dass ich nicht in der Lage bin, dem Stück Fels auszuweichen. "Aua!", zwei blutige Schrammen knapp ober dem Fußgelenk sind die Folge. Fürchterlich, wie patschert man mit zunehmenden Jahren und einem Rucksack auf den Schultern wird.

Nach einer kleinen Stärkung am grünen Grasfleck direkt bei den Einstiegen in die Westwandrouten tauchen wir ein in die Schattenwelt des vormittäglichen Ochsenhorn-Wandsockels. Ich darf beginnen und möchte über den fantastischen Fels und die schönen Kletterbewegungen am liebsten jubeln. Kurz vor dem Stand die Schlüsselstelle dieser ersten Seillänge: eine Plattenpassage, wie ich sie als Hallen- und Klettergartenkletterer gar nicht mehr gewohnt bin. Alter Plattenfuchs, der ich trotz alledem immer noch bin, schwindle ich mich aber die letzten paar Meter zum ersten Stand hoch. Juhu, geschafft, super Kletterei, jetzt nur noch Stand bauen, wo ist der zweite Standhaken? Tja, die einzelnen Kreuzchen in Adis Topo - sie sind mir beim Routenstudium natürlich aufgefallen - sind nicht wegen Platzmangels am Papier oder wegen der Faulheit des Autors ohne Gegenstück geblieben. Der Zeit der Erschließung entsprechend ging man davon aus, dass ein einzelner Klebehaken als Standplatz ausreichte. Mit den Erfahrungen der vergangenen 20 Jahre und einigen unglaublichen Geschichten aus dem Munde von hauptberuflichen Routensanierern betreffend Verbundhakensysteme, sehe ich meinen ersten, so wie alle folgenden Standplätze auch, etwas differenzierter; und baue einen zweiten Fixpunkt dazu, und wenn er auch nur aus einer schwindligen Bandschlinge besteht, die ich über eine Gesteinsstruktur lege, die ich nicht einmal mit viel Bauchweh als Felsköpfel bezeichnen kann.

Auch Hias bewältigt die erste Schlüsselstelle mit Bravour, ebenso wie die zweite Seillänge, die die erste selbstgelegte Zwischensicherung aufnimmt. Überhaupt, man muss es sagen, der Sockel der Westwand besteht wirklich aus fantastischem, festem, kletterfreundlichem Gestein und verheißt viel Gutes für den zweiten, längeren Teil unserer Route. Während wir uns also die ersten fünf Seillängen hocharbeiten - die 8- Stelle in der vierte Seillänge fordert als Schlüsselstelle des unteren Teils des "Silberkristall" eine akrobatische Kletterbewegung und viel Beweglichkeit im rechten Hüftgelenk - hören wir das Gepolter losgetretenen Gerölls links unter uns und das Stimmendurcheinander einer großen Gruppe Menschen, die den Weg auf diese Seite des Loferer Stoabergs über das Rotschartl genommen hat. Argwöhnisch beobachten wir, wie sich die Gruppe aufteilt und ein Teil offenbar den modernen Routen am Traunspitzl zueilt, während sich eine kleinere Gruppe den Einstiegen der Westgratpfeiler-Touren zuwendet. Da stehen sie dann in der Nische am Beginn der "Bellavista" und halten offensichtlich eine Schulung ab. Hias und mir ist etwas mulmig dabei, weil sie sich genau in den Ausgang der Gipfelschlucht gestellt haben: jeder Stein, der aus der Westwand fällt, kommt hier mehr oder weniger nahe vorbei.

Und dann passiert es uns natürlich beim Queren der Gipfelschlucht, dass wir ein paar Steine lostreten. "Stoa!!!", schreit Hias. Wir lauschen, hören aber nichts von unten und klettern, nachdem wir die Seile gelöst haben, vorsichtig unsere Route weiter zum Einstieg in den oberen Teil der "Silberkristall". Gelb, schwarz, rot und grau, alle Farben festen aber auch zweifelhaften Gesteins, blickt uns der Weiterweg entgegen! Hias, für die Zuteilung der einzelnen Seillängen zuständig, hat sich dafür entschieden, alle schwierigen Längen als erster zu klettern und straft damit alle jene Lügen, die behaupten, er würde stets mich bei unseren schweren Klettertouren in den anspruchsvollen Klettermetern vorschicken. Und so macht er sich also auf in die ersten splittrigen und brüchigen Meter, die in einen Untergriff-Quergang nach rechts münden, der von unten unheimlich abweisend und anstrengend aussieht - und hakenlos. Die Kletterei erweist sich dann aber als durchaus machbar, nur um in den Riss zu gelangen muss man schon einige ziemlich pressige Züge machen. Und ich meine "pressig" so, wie es ein Klettergartenkletterer eben meint. Danach ein kleiner Überhang, ein Piazriss mit schlechten Tritten und einem Runout zum Stand, und dann ein blauer Hubschrauber über dem Grasfleck am Einstieg unserer Route...

Wir sprechen es lange nicht an, denken aber wahrscheinlich beide dasselbe: wir haben mit unseren, vor einer Stunde ausgelösten Steinen einen Kletterer erschlagen! Eine dunkle Wolke legt sich auf mein Gemüt und mein Denken und hebt sich für den Rest des "Silberkristalls" nicht mehr aus meinem Kopf. Schwer zu sagen, wie es Hias geht, aber auch er wirkt angezählt und klagt am folgenden Stand über Schmerzen im Arm. Einer der vielen Bäuche des oberen Teils, die sich nur in boulderartiger Kletterei überwinden lassen, fordert seinen Tribut. Ich kann es wegen der Spekulationen rund um den Hubschraubereinsatz auch nicht unterlassen, auf unserem Weiterweg immer wieder auf meinem Smartphone nach Nachrichten über ein Unglück im Loferer Steinberg zu suchen…
Schließlich gelangen wir an den Beginn der spannendsten Seillänge: einer wirklich tollen Verschneidung, die auf 30 Metern zunächst einmal selber abgesichert werden muss, ehe man zu zwei Bohrhaken gelangt, die die letzten Meter zum Stand absichern. Ich bin in diesem Augenblick wirklich froh, dass Hias nach einer kurzen Nachdenkpause sich alle Keile und Friends an den Klettergurt hängt, um sich dieser klassischen Kletterei zu stellen. Er macht das dann auch wirklich großartig!

Schließlich haben wir ihn, nach der schwersten Stelle der Tour (on-sight!), vor uns! Der "Silberkristall"! Von drei rohen Metallstiften festgeklammert strahlt er uns riesig und makellos entgegen. Das jahrzehntelange Geheimnis um diesen Stein ist für uns gelüftet. Mit Stolz und Demut nehmen wir das Wandbuch aus der Metallkiste und tragen uns als 23.Seilschaft, die die Route geschafft hat, und als erste seit 2012, ein. Die beiden letzten Seillängen hänge ich dann zusammen, sind ja "nur" eine 3er und eine 5+; aber unbedingt leicht ist die Kletterei deswegen noch lange nicht!

Dass wir abseilen würden und nicht den Weg zurück über den Ochsenhorngipfel und den nordseitigen Abstieg mit Gegenanstieg auf das Rotschartl nehmen würden, war von vornherein ausgemacht. Die Abseilerei beginnt aber gleich mit einem fürchterlichen Gwirx. Ich werfe die Seile am Gratverlauf aus, erreiche damit aber nur Seilsalat und losgelöste Steine, die hier in Massen auf Beförderung in die Tiefe warten. Beim zweiten Abseilstand ist es dann noch einmal genau so, ich habe nichts von meinem ersten Versuch gelernt. Beim dritten Abseilstand sind wir uns lange Zeit nicht sicher, ob es der in Adis Topo eingezeichnete Stand ist. Im Glauben, nun schlauer zu sein als zuvor, lässt mich Hias passiv ab, aber ich kann auf der Kante eines Überhangs stehend nicht erkennen, ob ich so die Kanzel vor dem Quergang der "Gelee Royale" überhaupt erreiche - es ist ja doch schon 12 Jahre her - oder an einem Halbseilstrang frei in der Luft hängend in diesem Felsenmeer strande. Panisch mache ich mich auf den Weg zurück nach oben. Erst nachdem wir sicher sind, dass wir uns tatsächlich am richtigen Abseilstand befinden, macht sich Hias als erster am Doppelstrang auf den Weg in die Tiefe und Gott sei Dank fädeln wir auch richtig in die Abseilpiste der "Gelee Royale" ein. Bei den folgenden Abseilfahrten können sich die angespannten Nerven wieder beruhigen, aber es hat viel Zeit gekostet, den Rückweg zu finden. Ach ja, beruhigen? Als ich es allein nicht schaffe, das Seil zu uns auf die Kanzel abzuziehen, steigt der Stress noch einmal kurzzeitig auf maximales Niveau. Erst mit unser beider Gewicht schaffen es Hias und ich, das Seil doch noch abzuziehen.

Wir sind wieder am Einstieg, wir sind sicher. Wir sind aber auch am Hubschrauberlandeplatz. Ich schärfe meinen Blick: ist hier irgendwo Blut? Es ist nichts zu sehen. Vorsichtshalber rufen wir zu Hause an, es soll sich niemand ängstigen, wenn über die Medien Nachrichten von einem Unglück am Großen Ochsenhorn gesendet werden. Dann machen wir uns auf den noch langen Weg zurück ins Tal. Diesmal schwitzen wir und Bremsen umschwirren und ärgern uns. Ich bin zwar stolz und froh, dass wir es geschafft haben, aber irgendwie will keine rechte Freude aufkommen. Wieder ein Griff zum Smartphone und ein Blick auf die Nachrichtenseiten…
Um kurz vor 20 Uhr erreichen wir die Jausenstation Halserbauer. Die Haustür ist verschlossen! Für uns heißt das: Pech gehabt - lieber Halserbauer! Auf geht's zum Hüttwirt, auf einen Hucker im Gastgarten bei Bier und Kassupp'n. Ich bin so geschafft, dass das Bild der deftigen Kassupp'n ein unwiderstehliches Verlangen in mir ausgelöst hat und ich direkt froh bin, dass wir hier nicht bleiben können. Ohne schlechtes Gewissen verlassen wir den Parkplatz, ohne unseren Obulus zu entrichten, und laufen 15 Minuten später im heimatlichen Wirtshaus ein. Das erste Bier - zack und weg! Langsam baut sich eine Art Euphorie auf. Jetzt wählt Hias noch die Nummer der Schmidt-Zabierow-Hütte, um sich nach dem Unglück im Fellerer Sand zu erkundigen. Ja, es gab einen Verletzten, aber keinen Toten, und wir hatten damit gar nichts zu tun! Jetzt schlägt die Freude voll durch, was für ein denkwürdiger Tag, was für eine fantastische Tour, sicher etwas vom Anspruchsvollsten und Anstrengendsten, was wir geklettert sind. Wir bestellen uns ein zweites Bier. Ich sage zu Hias, dass ich eigentlich froh bin, dass ich mein Geld nicht damit verdienen muss, solche Touren zu klettern…


Der Silberkristall wartet gleich mit einer anspruchsvollen Plattenstelle in der ersten Seillänge auf. Kletterer, sei gewarnt!

Unter der ersten 8- Stelle. Hias im Anflug.

Orientierung - wer ist dran, wie geht's weiter?

Der Silberkristall. Zeit, Sonne, Kälte, Regen und Schnee haben seinem Glanz nichts anhaben können.

21 Jahre Silberkristall, 23 geglückte Begehungen.

Nach einigem hin und her beim Finden der Abseilpiste endlich - zumindest körperliche - Entspannung beim Hinunterfahren am Seil.

Die makellose Westwand des Großen Ochsenhorns. Hat sie uns heute das letzte mal hinaufsteigen gesehen?

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