Panoramablick von der Maureralm
Im mittleren Teil des "Reichs der Stille"
Mehr Schnee als gedacht in der ...

Im Reich der Stille

Zwei Stücke aus dem schialpinistischen Raritätenkabinett

"Die unbekannten 'Leoganger Steinberge' sind und werden es auch bleiben, ein Reich der Stille. Eine einzigartige, alpine Schitour auf das Birnhorn, filmisch in Szene gesetzt von Werner Herzog. Welcher Anstieg diese atemberaubenden Ausblicke bietet, bleibt ein Geheimnis der unbekannten Leoganger Steinberge."

So lautet die Beschreibung zu Werner Herzogs Film, den er vor etlichen Jahren anlässlich des 50-Jahr-Jubiläums der Sektion Leogang im Bergbaumuseum in Hütten präsentiert hat. Findige Leser, die es bis hierher geschafft haben, werden keine Schwierigkeit haben, den Film zu sehen, ohne die Reise in das Dorf Innergebirg antreten zu müssen.

Werner ist also viel daran gelegen, weder den Namen noch eine Beschreibung des Anstiegs preiszugeben, was kann ich daher anderes tun, als es ebenso zu halten? Vor vielen Jahren habe ich mir eine virtuell-blutige Nase geholt, weil ich überschwänglich und mit schönen Fotos von der Schitour ins Dürrkar geschwärmt habe. Mir völlig unbekannte Personen haben mich daraufhin angeschrieben und wollten Infos, die heimischen Tourengeher sahen sich um ihren bis dato gut gehüteten Schatz betrogen und waren mir böse.

Der Stoaberg ist tatsächlich kein "Reich der Stille" mehr, zu bekannt sind inzwischen die klassischen Winteranstiege unter den Schitouristen, der Parkplatz beim Hackerbauer, von wo aus man ins Ebersbergkar und aufs Birnhorn aufbricht, ist regelmäßig voll und der Tourismusverband Saalfelden-Leogang lässt neuerdings den Hubschrauber über Passauer Hütte und Hochgrub für Werbeaufnahmen kreisen, es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis das Fluggerät mit gut betuchten Gästen auf Hochzinth, Kuchelnieder oder Kesselleitenscharte aufsetzt. Hier soll aber auch wieder Schluss sein mit pessimistischen Betrachtungen über die Zukunft der Heimatberge. Wenn schon nicht im Winter, so wird der Stoaberg abseits von Passauer Hütte und Birnhorn spätestens im Sommer wieder die einsamste Gegend der Welt sein: 99% der Tourengeher würden nie im Leben im Sommer auf einen Berg steigen, auf den sie auch im Winter mit Bretteln an den Füßen kommen.

Jedenfalls war es für uns Leoganger nicht schwer rauszufinden, wo Werner mit seinen Bergkameraden im Film überall unterwegs war. Und um der sich dem Ende zuneigenden Schisaison noch eine Krone aufzusetzen, hatte Hias nebst vieler anderer guten Ideen auch noch diese, entweder ein Kar abzufahren, das uns schon seit langer Zeit im Kopf herum gespukt hatte, oder den Anstieg aus dem Film nachzugehen. Zwei Ziele also zur Auswahl, aber aus der "Entweder-Oder" Entscheidung konnten wir auch leicht eine "Sowohl-Als auch" Variante basteln und sie, zugegebenermaßen nicht ganz ohne Bauchweh am Vortag, zeitig am Morgen angehen.

An einem Morgen, an dem ich fast verschlafen hätte. Ich hatte den Wecker nämlich um eine Stunde zu spät gestellt, wahrscheinlich, weil sich innerlich alles gegen eine Weckzeit mit einem "4"er als Stunde wehrte. Gott sei Dank übernahmen zwei überdimensionale Bärlauchknödel und eine große Portion Sauerkraut vom AV-Jugendbetreuer-Treffen am Vorabend mittels kräftigen Drucks auf meinen Bauch die Aufgabe des Weckers. Spät genug allerdings, um nur noch für einen Stehkaffee und ein Marmeladebrot Zeit zu finden. Hias sollte es im Vorfeld nicht viel besser ergehen: Kopfweh am Vortag ließ ihn an seiner körperlichen Fitness für den langen Anstieg zweifeln.

Aus der AV-Karte ließ sich der beste Zustieg nicht wirklich ablesen, aber eigentlich konnten wir als Gebietskenner den richtigen Weg nicht verfehlen. Trotzdem freuten wir uns, als wir so ganz ohne das übliche Zustiegs-Gwirx, mit dem sich der Stoaberg immer noch mehr schlecht als recht dem Ansturm der Massen entgegenzustemmen versucht, am Eingang jenes Schlauchs standen, der uns erst gute 1000 Meter höher wieder ausspucken sollte. Oder aber, nur wollten wir daran nicht denken, auch wieder nach unten ausscheiden könnte. Adieu, Sonne, für die nächsten paar Stunden und hinein in die Rinne, begleitet von einem kalten Hauch, der die Rinne abwärts und uns beim Kragen hinein über den Rücken strich.

Nach wenigen Metern stellte sich uns bereits ein Hindernis in den Weg: zwar nur wenige Meter hoch, aber doch zu hoch, um leichtfüßig überklettert zu werden, eine Eispassage rechts bzw. ein schräger Felsriss links. Das dünne Eis, das Kratzen der Steigeisen am Fels und unsere nicht vorhandene Erfahrung damit im kombinierten Gelände ließen uns schließlich eine Umgehung wählen, die sich zwar als einfacher, aber auch als zeitaufwändig herausstellte. Aber egal, einen Zeitrekord wollten wir hier ohnehin nicht brechen.

Peinlicherweise stellte sich meine Antwort "vernachlässigbar" auf Hias Nachfrage nach der Neuschneemenge vor ein paar Tagen als schlichtweg falsch heraus. Je höher wir kamen, umso tiefer auch der Schnee in der Rinne, was dummerweise dazu führte, dass sich das Steigen zunächst zu einem Wacheln und in weiterer Folge direkt zum Wåodn (zu deutsch: "Waten") auswuchs. Der Versuch, mit Schi weiterzugehen, scheiterte zunächst am steilen Gelände und an den wechselnden Verhältnissen. Mulmig wurde uns auch deshalb, weil es uns hier trotz Lawinenwarnstufe 1 alles andere als sicher vorkam. Und es hätte ja nur einen kleinen Schneerutsch gebraucht, der uns unaufhaltsam in die Tiefe befördert hätte. Beim Blick auf den oberen, inzwischen stark sonnenbeschienenen Teil unseres Anstiegs läuteten daher auch gleich die Alarmglocken (ohne Umweg über Knödel und Sauerkraut). Ein bißchen beruhigte uns das nah erscheinende Ziel, allerdings fiel es uns erst spät auf, dass wir einem "Parallaxenfehler" aufsaßen: so ähnlich wie bei einer Zeigeruhr, die einem eine falsche Zeit anzeigt, wenn man schräg auf Zeiger und Zifferblatt blickt, wandelten sich die geschätzt 100 fehlenden Höhenmeter auf das Doppelte, die dafür benötigte Zeit verdreifachte sich sogar.

Wie unglaublich mühsam das Zufußgehen! Hias spurte mit den Steigeisen unwiderstehlich höher durch den tiefen Schnee, mir blieb aber nichts anderes übrig, als die Schi anzuschnallen und zu hoffen, dass sich die Schneeverhältnisse zumindest nicht verschlechtern würden. Während Hias links auf einen Rücken aufstieg, querte ich im Zickzack im Zentrum der Rinne, beruhigte mich aber mit jedem Höhenmeter, mit dem der Schnee firniger wurde und die Kraft in den Beinen zumindest nicht mehr abnahm. Trotz der Qualen des Aufstiegs waren wir uns der Einmaligkeit unserer Umgebung, dieses Reichs der Stille, voll bewusst. Hier waren wir im höchsten Maße ausgeliefert und einsam, und kaum zwei Kilometer Luftlinie entfernt schaufelten Schilifte Abertausende Schifahrer auf Gipfel und Pisten.

Am Ende der Rinne angekommen wartete zumindest auf mich eine Enttäuschung. Ich hatte immer geglaubt, wir würden am Westgrat aussteigen, was prinzipiell auch möglich gewesen wäre, wenn wir uns Richtung Osten gewandt hätten, um über Fels- und Schneebänder weiterzuklettern. Allerdings hatten wir keinen Anhaltspunkt, wie schwierig dieser Weiterweg sein würde, da wollten wir unser Abenteuer auch nicht überstrapazieren. Hias kannte den Weiterweg schon vom Sommer, war also weniger überrascht als ich und blieb auch gleich in der Führungsposition - damit ihm nicht kalt würde, ginge er schon einmal weiter, sagte er, während ich erneut meine Schi auf den Rucksack schnallte und auf Steigeisen wechselte.

Viel später, als es geworden wäre, hätten wir den normalen Aufstieg genommen, kamen wir kurz vor Mittag am Ritzenkar an. Etwas verwundert darüber, keine Spuren vorzufinden, bemerkten wir viel tiefer eine einsame Aufstiegs- und Abfahrtsspur. Später wurde uns klar, dass der Tourengeher wahrscheinlich wegen der Lockerschneerutsche, die sich mit zunehmender Wärme immer häufiger aus dem steilen Gelände lösten, seine Tour abgebrochen hatte. Über uns am Birnhorn bemerkten wir zahlreiche Menschen, die einen noch im Aufstieg, die anderen bereits am Weg zurück zum Schidepot. Müde, wie wir waren, und im Bewußtsein, uns dieses Jahr ohnehin bereits im Gipfelbuch verewigt zu haben, verzichteten wir leichten Herzens auf den Abstecher aufs Horn. Stattdessen gönnten wir uns endlich die erste, längere Pause dieses Tages. Hias befreite sich vom Wasser, das sich in seinen Schischuhen angesammelt hatte. Schwer zu schätzen, wie hoch der Anteil an Schmelzwasser aufgrund des eingedrungenen Schnees während des Stapfens war. Ich überlegte, unter welchen Umständen ich gegen das sorglose Wegschütten des lauwarmen Schuhwassers auftreten würde...

Eigentlich hätten wir erwartet, hier heroben im Ebersbergkar auf eine Tourengruppe des AV Leogang zu stoßen, denn für diesen Tag war eine Vereinstour quer durch den Leoganger Stoaberg ausgeschrieben. Aber weder Landsleute noch sonst irgendwelche menschliche Spuren waren westlich von uns auszumachen. "Im Reich der Stille..." Das bereitete uns aber kein Kopfzerbrechen, viel mehr waren wir bereits sehr gespannt, wie sich die von uns geplante Abfahrtsvariante darstellen würde. Gerechnet hatten wir mit einer Art Abstecher, also einer kleinen Variante zu einer bereits vor vielen Jahren unternommenen Tour. Was sich uns dann aber darbot, übertraf alle unsere Erwartungen: ein ewig langer, gleichmäßig steiler Pulverschneetraum tat sich vor uns auf, eingerahmt von steilen Felswänden, ein durch seine besondere Ausrichtung vor Blicken und Sonnenstrahlen verborgenes Kar.

Müsste man nicht einfach Stehenbleiben, um über die Umgebung zu staunen, und wären die Oberschenkel nach den vielen Tragemetern nicht so leer, es wäre eigentlich schade, hier zwischendurch abzuschwingen! Die Erschöpfung, die nach dem Aufstieg durch die lange Rinne überwog, wandelte sich hier in Enthusiasmus und Begeisterung. Diese Abfahrt empfanden wir wahrhaftig als das redlich verdiente Glück des Tüchtigen und ich denke, man spürt unsere Emotion in diesen Zeilen. Je tiefer wir allerdings kamen, umso mehr wandelten sich Umgebung und Schneesituation. Auf den nun prall von der Sonne angestrahlten Südhängen lösten sich unter jedem Schwung Lockerschneerutsche auf der harten Unterlage und glitten unaufhaltsam in einen der zahlreichen Gräben oder einem jener Abbrüche zu, von denen man gar nicht wissen will, wie tief sie bis zum Bach zu ihren Füßen gründen. Von gegenüber schreckte uns das Grollen eines großen Schneerutsches vom Dreizinth auf und machte uns bewusst, dass es höchste Zeit war, diesen Ort zu verlassen.

Gott sei Dank kannten wir den Weg von früher, auch wenn es nicht wirklich schwer ist, den richtigen Weg nach unten zu finden. Das Chaos aus Gräben, die irgendwo steil in den Weißbach münden, und Latschenbedeckten Rücken, die sich oben in senkrechte Felswände aufschwingen, ist es auch, das viele Tourengeher von dieser Ecke des Stoabergs fernhält. "Oben hui, unten pfui", möchte man bei den meisten der Schitouren in unserem Gebirgsstock kommentieren, so auch bei dieser. Oberhalb eines der inzwischen so zahlreichen, unseligen Jagdstände (Hochsitz kann man nicht sagen zu diesen klohäuslartigen Verschlägen, die jetzt überall im Revier wuchern, vielleicht weil sie die Hubschrauber von Wucher für gar nicht mehr so hohe Wucherpreise dorthin transportieren) trafen wir auf eine alte Schispur. Ein paar Menschen tun sich also offenbar doch diese mühsamen, einsamen Anstiege an. Diese hier bestärkte uns im Wissen, dass wir auf dem richtigen Weg waren, und deshalb freuten wir uns auch darüber.

Schließlich, sorgfältig darauf bedacht, nur ja nicht zu tief in Richtung Weißbach zu geraten, rutschten wir quer der Maureralm entgegen. Dort wurden wir abermals für unsere Mühen belohnt, ein feiner Firnteppich, gerade noch so zusammenhängend, dass er uns eine unterbrechungsfreie Fahrt bis zur schneebedeckten Almstraße erlaubte, erwartete uns und ermöglichte noch letzte, schwerelose Schwünge. Ganz ohne Schitragen ging es dann allerdings doch nicht. Die hundert aperen Meter unterm Maurerbauern bis zur ehemaligen Bahnstation Hütten nahmen wir aber angesichts dieses wunderbaren Tages leichten Herzens in Kauf. Worauf wir allerdings gern verzichtet hätten, war ein Zwischen"fall", praktisch auf den letzten Metern: just in dem Moment, in dem ich in der Kälte der Bahnunterführung daran dachte, vorsichtig zu gehen, um nicht im letzten Augenblick noch hinzufallen, knallte Hias neben mir auf dem schneebedeckten Eis auch schon auf den Boden.

Unsere Tour, Höhepunkt der Saison 2017/2018 endete dort, wo so eine Tour ihren würdigen Abschluss finden muss: beim Hüttwirt, gerade einmal zehn Meter von meinem Heimathaus entfernt. Aus irgendeinem Grund war es mir wichtig, genau so in die Gaststube einzutreten, wie ich gerade war: verschwitzt, erschöpft, glücklich. Und wenn ich es in diesem Bericht auch weitgehend vermeiden musste, Namen zu nennen, einen Geheimtipp brauche ich mir an dieser Stelle nicht zu verkneifen: die Kassupp'n mit einem großen Bier beim Hüttwirt - das sorgt für Seligkeit, also auch quasi für ein "Reich der Stille".

Im Gedärm der Birnhorn Südwand
Nach gut zwei Stunden Stapfen erreicht uns die Sonne. Trotz Anstrengung und blauem Himmel wird uns wegen des kalten Luftzugs in der Rinne nicht wirklich warm.
Gequältes Lächeln
Die Ausrüstung wiegt schwer, der Schnee, der sich auf den Steigeisen anzustollen beginnt, ebenso.
Querung ins Ritzenkar
Die Querung sieht halb so wild aus - ein Ausrutscher würde einen allerdings doch einige Etagen tiefer über felsiges Gelände befördern.
Am Ritzenkar
Jaaaa! Wir haben uns die Pause am Ritzenkar ehrlich verdient!
Unterm Birnhorn
Das Birnhorn lassen wir diesmal, müde wie wir sind, aus. Ist ohnehin genug los dort oben an diesem makellosen Tourentag.
Unterm Dreizinth
Los geht's: Hias steht vor der Einfahrt ins unberührte Kar. Der Dreizinth betrachtet unser Vorhaben wohlwollend.
Einfahrt Leoganger Rotschartl
"Einfach unglaublich...!", geht es uns durch den Sinn. Pulverschnee, ein endlos langer, gleichmäßig steiler Hang und keine einzige Menschenseele weit und breit.
Ausfahrt Leoganger Rotschartl
Wahrscheinlich fährt hier nie jemand, weil der Leoganger Stoaberg seine Schätze vor den Blicken neugieriger Tourengeher gut zu verbergen weiß.
Blick zurück
Bevor es in das Labyrinth aus Gräben, Abbrüchen und Latschenriedeln geht noch schnell ein Blick zurück auf unsere Spuren. Jeder Schwung in der dünnen Neuschneeauflage löst hier in der Sonne einen kleinen Schneerutsch aus.
Einkehr beim Hüttwirt
Alle Wege führen - nein, nicht nach Rom - sondern zum Hüttwirt. Prost!

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