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Ich betrachte es als großes Glück, einer unvernünftigen
Eingebung nachgeben zu können, ebenso wie es sich oft schon als Unglück
herausgestellt hat, eine Idee aus reinen Vernunftgründen zu verwerfen,
vor allem, wenn es Vernunftgründe sind, die nicht selbst erdacht,
sondern geerbte und übernommene sind, wie ich fast alle diese Gründe und
Argumente geerbt und übernommen habe, weil mir etwas davon Abweichendes
doch im höchsten Maße unvernünftig erschiene. Eine Idee, die
eine abzulehnende ist, trotzdem zu erwägen und weiterzuspinnen, bis sie
sich nicht mehr abtun läßt, der Vernunft nicht mehr zugänglich
ist, mag sich als falsch erweisen, als eine Schnapsidee, der man aufsitzt,
oder aber es entwickelt sich daraus eine Vision, ein wenigstens
witziger Einfall, etwas, das es wert ist, gedacht und verwirklicht zu
werden. Denn wer vernünftig ist, der erlebt nichts, das ist die Wahrheit.
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Die Ungeheuerlichkeit einer Handlung läßt sich daran ermessen, auf
wieviel Verständnislosigkeit und Ablehnung sie stößt, wieviel
Widerstand sie erzeugt. Das gilt für das Unvernünftige gleichermaßen wie
für das Vernünftige. "Stefan, du bist so vernünftig", sagte T. des
öfteren zu mir, in einem Tonfall, der Bewunderung ausdrücken sollte, doch war in diesen Worten die
Missbilligung dessen, was ich tat oder was ich sagte, nicht zu
überhören. Am vernichtendsten war T. aber immer mit der Anschuldigung, ich sei viel zu vernünftig.
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Unvernunft hat nichts mit Tollkühnheit oder gar Leichtsinn zu tun,
wenngleich diese Dinge leicht zusammenfinden. Die große Kunst besteht
darin, unvernünftig und gescheit zur selben Zeit zu sein. Noch vor
24 Stunden kletterte ich mit Hans im Klettergarten in den allerhöchsten
Schwierigkeitsgraden, hier aber, mit Schischuhen an den Füßen und
Schi und Stöcken in der Hand, vor der Herausforderung stehend,
über eine schneebedeckte Platte zu steigen, ausgesetzt auf einem steilen und
felsdurchsetzten Hang, sah ich mich
ausserstande, die fehlenden 10 Meter bis zur lockenden Scharte
zurückzulegen. Unvernunft hatte mich an diesen Ort gebracht, Klugheit
ließ mich ihn wieder heil verlassen.
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Matthias, der Rationale, der Nüchterne, die Vernunft
in Person, wie man so sagt, mußte nicht erst lang für die
Idee gewonnen werden, was überraschend war, da er schon oft Widerstand
gegen meine Pläne ausübte und sie mir austrieb, mir die
Unmöglichkeit meiner Vorhaben vor Augen führend. Und das obwohl die
Umstände gegen sein Dabeisein an diesem Tag
sprachen. Das unserer Unternehmung vorangegangene Geburtstagsfest, das er bis
in die frühen Morgenstunden mitbegangen hatte, war ihm an diesem Morgen deutlich
anzusehen, hatte Spuren hinterlassen, sich als Ringe unter seine Augen
eingegraben, was im Übrigen selten vorkam, dass man seinen physischen
Zustand von seinem Gesicht ablesen konnte.
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Martina hatte sich bereits früh nach den Plänen für das
Wochenende erkundigt, nie einen Zweifel an der Sinnhaftigkeit meiner Absichten hegend, aber
sanften Druck auf die Zeit ihrer Umsetzung ausübend. Da ihr der
Termin am Samstag ungünstig erschien, richtete sie das Augenmerk auf das
Wetter, das am Sonntag viel geeigneter gemeldet war und bewirkte so eine
eintägige Verschiebung unseres Ausflugs. Als es dann aber soweit war, da
hatte sie verschlafen, hatte sie am Vorabend vergessen, den Wecker zu
stellen und war erst durch das frühmorgendliche Glockengeläut der benachbarten
Kirche aufgewacht. Der Verdacht, sie könnte zur
Vernunft gekommen sein, zur Einsicht, dass der Ausflug eine Schnapsidee
sei, einer, den sie nun absagen wollte, erwies sich als ungerechtfertigt, als
sie nach einer Frist von 15 Minuten ohne Frühstück, dafür aber
in voller Montur und voller Tatendrang vor uns stand.
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Christoph hatte sich angeschlossen, ohne genauer über die Details des Ausflugs
informiert zu werden, einer spontanen Eingebung folgend hatte er zugesagt. Gerade erst war er von
Thailand zurückgekehrt, wo er die vergangenen fünf Wochen verbracht hatte, weg vom
Winter, wo er mehr als einen Monat keinen Schnee gesehen hatte, und jetzt,
kaum zurückgekehrt, noch weitere zwei Stunden keinen Schnee sehen
würde. Christoph gehört zu den muntersten und ermunternsten
Menschen, er ist einer,
der seiner Begeisterung Ausdruck verleiht und sie auf andere
überträgt, einer der es versteht, seine eigene Freude anderen einzuprägen.
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So also schleppte ich mich mühsam entlang des ausgedachten Weges in die
Höhe, über Wiesen, auf denen bereits die Frühlingsblumen zu
blühen begannen, durch trockene Wälder und auf aperen
Latschenfeldern, der Rucksack, die Ski
und die Skischuhe schwer auf den Schultern lastend, die unvernünftige Idee
teilend mit Martina, Hias und Christoph, die sich wohl der Tatsache der
Unvernünftigkeit ihres Handelns, nicht aber über deren Ausmaß
bewusst waren, das sich in Stunden allein nicht angeben ließ.
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Ich liebe den Leoganger Stoaberg, weil er sich den Vernunftgründen verschließt,
an seiner Südseite ebenso wie an seiner Nordseite, weil er nicht billig
zu haben ist und seine Tourenziele deshalb so kostbar sind, wie die billigen
Ziele ja überhaupt die allerwertlosesten sind, die Allerweltsziele, die
ebenso schnell vergessen sind sowie sie konsumiert worden sind. "T.", habe
ich gesagt, "wenn sie ihres Tuns auf Dauer nicht überdrüssig werden
wollen, dann vermeiden Sie die billigen Ziele, denn diese sind im
höchsten Maße wertlos. Suchen Sie die Herausforderung in der Wahl
Ihres Weges, nicht in der Konkurrenz um den besten Startplatz."
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So vernünftig die Ziele heutzutage nämlich ausgesucht werden von den stets über
die Verhältnisse bestens Informierten, den Bruchharschverweigerern und
Steighilfebenutzern,
auf in gleichem Maße furchtbar angelegten Spuren erreichen sie dann diese ihre
Ziele, die eigentlich gar nicht ihre Ziele sind, denn nur wenige verstehen sich noch auf die Kunst der guten
Spuranlage, und das ist die Wahrheit. Nur ein ganz besonders intelligenter,
mit ganz besonderen Geistesgaben ausgestatteter Mensch erlernt überhaupt
die Fähigkeit des Spurens und getraut sich, diese in einer
Landschaft wie dem Leoganger Stoaberg auch anzuwenden.
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In der Spur spiegelt sich der Charakter der Person wieder. Wie
widerwärtig waren mir stets die geradlinigen, die viel zu steilen
Anstiege, wie sie nur von den Empfindugslosen, den nur auf sich Bedachten,
den Sportlern, wie man so sagt, angelegt werden konnten, die sich dann
ja auch immer als die widerlichsten Charaktere von allen herausstellten. Oft sind es
gerade die Ausnützer, die sich nicht darauf verstehen, das Gelände
und seine Formen auszunutzen. Je krummliniger und ausnutzerischer der Charakter der
Person ist, umso geradliniger, steiler und schlechter nutzbar ist die Spur, die
sie anlegen.
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Eine gute Spur folgt entweder einer über die Jahre gewachsenen,
bewährten, einer durch die Tradition vorgegebenen Linie, oder aber sie
wird von einem intelligenten Kopf und geradlinigen Charakter erdacht und
erfunden. In der Gesellschaft von guten Spurern habe ich mich immer wohl
gefühlt, sie waren mir stets die liebsten Begleiter, von ihnen konnte ich
immer etwas lernen. Mit den Sportlern pflegte ich seit jeher einen
vorsichtigen und sehr eingeschränkten Umgang, mit den guten Spurern
hingegen bin ich immer gut ausgekommen.
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