Der Tag beginnt mit einem Rückschlag. Hias meldet sich kurz vor halb acht Uhr
Sommerzeit am Telefon und gibt bekannt, dass Hermann verschlafen hat und sich
noch in Zell am See befindet. Leichtsinnigerweise
hat dieser sich nämlich auf den Wecker seines Handys verlassen, das ohne Hermann's
Zutun während der Nacht die Zeitumstellung vollzogen hat. Wie hat das
nur passieren können, wo wir uns doch gegenseitig so fest eingebläut haben, zumindest
den Sonntag noch nach der alten Zeit zu verleben? Hias will resignieren und von der Tour
zurücktreten, es bedarf aber keiner großen Überredungskunst,
ihn davon wieder abzubringen. Dafür scheitert ein weiterer Versuch, Hermann doch noch auf die Beine zu
bekommen. Da wir uns durch dieses Malheur etwas verspäten werden,
rufen wir bei Sabine an, damit sie nicht in der kalten Morgenluft vor ihrem
Haus auf uns
warten muß. Weil sie nicht abhebt, sprechen wir die Nachricht auf's Band
und fahren kurz darauf, mit weniger Verspätung als befürchtet,
los. In Saalfelden angekommen tritt das Unfassbare tatsächlich ein: Hias telefonische
Mitteilung, dass wir jetzt da wären, reißt eine völlig verdatterte
Sabine aus dem Schlaf, auch sie ein Opfer der Zeitzonen-Option ihres
Telefons. Erst einen Tag später wird sie den Grund des Versagens ihres
mechanischen Weckers mit den großen "Tschinneulln" ergründet
haben. Wie kommt es aber, dass Hias pünktlich gewesen ist? Er hat sein
Handy überlistet - oder besser gesagt: er hat es versucht - indem er es bereits am Vorabend auf Winterzeit
eingestellt und einen geeigneten Weckzeitpunkt berechnet hat. Das Handy hat natürlich
die Zeit um eine weitere Stunde verstellt, mit dem Resultat, dass Hias zwei
Stunden zu früh geweckt worden ist. Da ist's dann natürlich leicht,
pünktlich zu sein. Während wir, von den Rythmen der Gipsy
Kings angefeuert, mit 92 Pferdestärken beschwingt Richtung Dientner Sattel und weiter nach
Mühlbach reiten, fragen wir uns, wer denn eigentlich genau an unseren Zeitproblemen
Schuld ist.
Laut Führer sollten wir den Einstieg zum Hiatamadl in einer Stunde
erreicht haben. Schmerzlich wird uns bald bewußt, dass diese Zeitangabe
auf den Ausgangspunkt Mitterfeldalm bezogen und nur für österreichische Staatsmeister
im Berglauf gedacht ist. Das phantasievolle Erfinden von Zustiegszeiten
scheint ein beliebter Zeitvertreib von Verfassern alpiner Literatur zu
sein. Was mich betrifft, so vergeht die Zeit dann dennoch sehr schnell, denn
Hias und Sabine beherrschen die hohe Kunst der Doppelconference. Das klingt
dann ungefähr so:
Sabine: Do hint'n, des is da Dochstoa.
Hias: Jo, da hechste Berg vo da Steiamork. A
3000-er, wos goar koana is! (grinst hämisch)
Sabine: Haha, und der Birnhorn-Gipfel steht dafür auf
Weißbacher Gemeindegrund.
Hias: Mhmm, jo, es gibt böse Zungen, wos des behaupten.
Sabine: Des sand koane besn Zungen, des is des
Grundbuch, wos des behauptet!
Hias: Grmpf.
Mich zerreißt es fast vor Lachen, wenn ich den beiden bei ihren heftigen Schlagabtauschen zuhöre. Hias ist überhaupt mein Held: er kann manchmal so uncharmant sein, dass es schon wieder irrsinnig charmant ist. Aber der Sabine kommt er in puncto Schlagfertigkeit kaum bei.
Mit schweren Beinen stehen wir schließlich in der sengenden Sonne am
Fuß der Torsäule. Was für ein herrlicher Felskoloß! Und
obwohl das Wetter einfach perfekt ist klettern nur wenige Seilschaften. Einzig
in der "Prechtig" gibt es Wartezeiten am Einstieg, alle anderen Kletterer
verlieren sich quasi in den unglaublichen Plattenfluchten dieses Bergs. Das
Hiatamadl ist nicht schwer auszumachen, die charakteristischen weißen
Streifen unter den Bohrhaken weisen den Weg. Es sind die auf den ersten Blick
ausreichend vielen Streifen, die uns veranlassen, die Friends
zurückzulassen und nur einen Satz Keile mitzunehmen...
In der zweiten Seillänge stehe ich auf der Platte und sehe den bisher einzigen Bohrhaken unter mir nicht mehr. Gefühlsmäßig ist er schon sehr weit weg und der nächste unerreichbar weit oben. Es ist ja nicht so schwer, aber... wenn ich falle, dann wahrscheinlich vorbei am Hias - der sich angeregt mit Sabine am Stand unterhält - in die Schrofen. Eine Beklemmung entsteht, rutscht durch Magen und Bauch, teilt sich in der Leistengegend und fährt in beide Beine, eine Nähmaschine. Ich bin kurz davor zu "panicen", wie mein Freund Hans das zu nennen pflegt. Sabine kriegt meine Angst mit und fragt bei Hias schon einmal an, ob man denn noch umdrehen könnte? Die Zurechtweisung folgt in Form eines überlegenen "Du werst woi nit scho schwächeln?!" Schließlich muß dann niemand schwächeln, Dank des Risses zu meiner Linken, der einen Stopper Nr. 8 bereitwillig und zuverlässig aufnimmt und die Situation spürbar entspannt.
Sabine wird unsere Seilschaft als "flotten Dreier" in's Gipfelbuch eintragen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, auch wenn Hias am Schlingenstand schon einmal kundtut, dass er (der Bequemlichkeit halber) über die Sabsi drübersteigen wird. Aber eigentlich funktioniert unsere Dreierseilschaft wirklich gut. Ich darf vorausklettern, dann folgt Sabine und mit einem Haken Abstand dahinter Hias. Während unser Mädel die Ruhe selbst ist, sind Hias und ich innerlich aufgewühlt: ich verkrafte die weiten Hakenabstände so schlecht, und Hias' Magen offenbar das Frühstück. Er gesteht dann auch ein, dass er den Respektabstand von einem Haken aus Gründen der Vornehmheit einhält. Einen kleinen Teil der warmen Steigwinde an diesem wundervollen Tag verdanken wir auf jeden Fall unserem "Nåchitreiber".
Am Standplatz nach der vierten Seillänge sind wir sehr verwirrt. Stolz,
uns in's Wandbuch eintragen zu können, stellen wir fest, dass wir uns in
der Route "Richie-Pfeiler" befinden. Verdammt, ich bin zu früh nach links
auf den falschen Stand abgebogen! Wir lesen weiters, dass wir nicht die ersten sind,
die es vom Hiatamadl hierher verschlagen hat. So machen wir denn als
dritte Seilschaft in diesem Jahr einen Eintrag in's Wandbuch, gleich unter die
Namen zweier Bekannter aus Saalfelden. Huhu, Toni und Helga, wie geht's?
In der fünften Seillänge erlebe ich noch einmal bange Momente. Diesmal
droht ein 5-Meter Sturz direkt auf den Sicherer und um zum nächsten
Haken zu kommen, muß man schon wieder auf zwei so schlechte Tritte
steigen. Es dauert jedesmal eine Ewigkeit, bis die Sicherheit da ist, dass der
Kletterzug gelingen wird. Dazwischen entstehen Phantasien von erschlagenen
Sicherungspartnern, ausgestürzten Seillängen oder überhaupt
Mannschaftsstürzen. Es ist die Hölle, es ist der Himmel.
Um vier Uhr Nachmittag stehen wir im warmen Licht der Oktobersonne am Gipfel der
Torsäule, den Schatten, die sich anschicken, die Südwand zu
erklimmen, sind wir leicht entkommen. Alles, was wir am Gipfel erleben und
sehen dürfen, ist großartig. Das ist vermutlich der perfekteste Tag
dieses Jahres.
Beim Abstieg erwischen wir die falsche Flanke und steigen über grasiges
Schrofengelände, das am unteren Ende senkrecht abbricht, zu unseren Rucksäcken ab. Das ist wirklich
gefährlich, aber wieder einmal bin's nur ich, der sich fürchtet. Meine
beiden Begleiter schwatzen und scherzen indes die ganze Zeit.
Hias hat selbstgebranntes Eder'sches Feuerwasser heraufgetragen und zieht es
jetzt aus seinem Rucksack. Der Edelbrand wird diesem Tag
mehr als gerecht und es ist eine Freude, das kleine Fläschchen kreisen zu
lassen. Dazu ein paar Bissen des edelsten aller Feingebäcke, einem
Topfengolatschen aus der Backstube meines zutiefst verehrten
Hüttbäck Helmut, und ich bin im Paradies. Es ist unglaublich: die
Schnapsflasche sieht zuerst so groß aus, dass sich die Frage stellt,
wer denn den ganzen Schnaps trinken soll. Inzwischen befindet sich nurmehr ein
kleiner Schluck darin.
Während des Abstiegs zur Mitterfeldalm verlangt Sabine von Hias exakte Definitionen der von ihm eingeführten Begriffe "Sicherheits-Verhauer", "Sicherheits-Hucker" und "Pro-forma Hucker". Sie nimmt es mit der Sprache sehr genau und schließlich muß Hias zugeben, dass es einen "Pro-forma Hucker" nicht gibt. Im Gegenzug darf er Sabine über die Bedeutung des Zeichens SU auf einem Klettertopo aufklären.
Was in der Mitterfeldalm konsumiert und geredet wird, Pläne, die für das kommende Jahr geschmiedet werden, dafür reicht hier der Platz nicht aus. Das ist eine eigene Geschichte.
Obwohl leicht illuminiert müssen wir für den Weg zum Auto auf unsere
Stirnlampen zurückgreifen. Hias, der seit jeher schlecht über seine
Lampe spricht, dass sie so wenig Licht ausstrahlt, lobt das Gerät
plötzlich in den höchsten Tönen. Es kommt wie es kommen
muß zum Lampenvergleich. Ich schalte mein Stirnlicht ein und alle sagen
"Ahh!". Sabine schaltet ihr Licht ein und alle sagen "Ohh!". Hias schaltet sein
Licht ein und Sabsi sagt "Los Hias, schoit ein!" Es kommt der Verdacht auf,
dass Hias' Lampe eher Licht absaugt als es ausstrahlt.
Etwa 100 Meter vor dem Auto wird Hias noch einmal besonders vorsichtig. Es soll
hier eine Unmenge Kuhfladen geben, er hat's beim Hinaufgehen gesehen. Sabine
wettet dagegen, es geht um gezählte drei Fladen. Im Licht der Stirnlampe
wird nun jeder Stein und Grasfleck inspiziert mit dem Endergebnis: keine
einzige Flade, 3:0 für Sabine.
Unter dem strahlend schönen Nachthimmel reiten wir schließlich mit 92 Pferdestärken und unter den rythmischen Klängen der Gipsy Kings beschwingt Richtung Dientner Sattel und zurück nach Leogang. Ein - nein der - perfekte Tag geht dem Ende zu und es ist gut, dass er als einziger in diesem Jahr 25 Stunden dauert.
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