|
Ch-ch-ch-ch-Changes
(Turn and face the strain)
Ch-ch-Changes
Don't want to be a richer man
Ch-ch-ch-ch-Changes
(Turn and face the strain)
Ch-ch-Changes
Just gonna have to be a different man
Time may change me
But I can't trace time
(David Bowie, 1971)
Zum letzten mal fällt am 21.Februar die Tür jenes Gebäudes hinter mir in's Schloss, wo ich im zweiten Stock
vier Jahre lang unbedankt die Ideen anderer Leute verwirklicht habe. Die Luft schmeckt zwar nicht anders als sonst,
aber sie fühlt sich irgendwie kühler an, und auch den Wind spüre ich jetzt stärker, wo es mit der
wohligen Gelähmtheit des Angestelltendaseins vorbei ist.
"Ch-ch-ch-ch-Changes", summe ich vor mich hin, während ich auf dem Fahrrad langsam
die Salzach aufwärts fahre.
Zwei mal war ich bis jetzt auf dem Großvenediger, das erste mal mit 13 Jahren, am 21. Juli 1982, wie mir
mein sorgsam gehütetes, leider nach seiner vollständigen Beschreibung nicht mehr fortgeführtes Tourenbuch
heute verrät, und dann noch einmal am 4. April 2009. Beide mal war ich in der angenehmen Situation, mich
außer konditionell nicht weiter vorbereiten zu müssen. Ob die Tour heute allerdings gelingt, hängt nunmehr
ausschließlich von meiner Planung ab. Es mag lächerlich erscheinen, aber beim Verlassen des Hauses um 4 Uhr morgens
fühlt es sich ein bisschen so an, als würde hinter mir eine andere Tür in's Schloss fallen, nämlich jene,
die in die hochalpine Selbständigkeit führt.
In Saalfelden hole ich Beni und Stefan ab, die sich meiner Planung und Führung anvertrauen. Die beiden Cousins sind 25 Jahre jünger
als ich und für sie sollte es die erste Besteigung des Großvenedigers sein. Es gleicht ein bisschen einem Initiationsritus,
dass sie nun nach geschaffter Schulkarriere auf Salzburgs höchsten Berg steigen dürfen - und auch fast ein bisschen müssen.
Die Schi, Stöcke und alle übrige Ausrüstung werden in meinem Auto verstaut, und dann geht es auch schon los. Es ist jedes mal
eine elementare Frage bei so einer anspruchsvollen Tour: ist die Ausrüstung vollständig? Habe ich etwas vergessen und wenn ja, was?
Fällt mir während der Fahrt nichts ein, was ich vergessen habe, dann fehlt tatsächlich etwas Wichtiges. Wenn ich auf ein fehlendes Teil
draufkomme und es ist verzichtbar, dann bin ich glücklich, weil dann die Ausrüstung quasi vollständig ist. Etwas fehlt nämlich immer.
Heute ist es der Gipfelschnaps. Vielleicht kein gutes Omen, aber bestimmt kein Grund, nach der Ankunft am Tourenausgangspunkt wieder
zusammen zu packen und heim zu fahren. Ich bin beruhigt und trotz der frühen Stunde sind wir alle hellwach und guter Stimmung,
und so verläuft die Fahrt nach Hinterbichl in bester Laune.
"Wo ist denn der Schnee?" Tja, wo ist der ganz Schnee nun geblieben, den
der heurige Winter der Alpensüdseite in so großzügiger Menge geschenkt hat? Vom Felbertauern Südportal aus blicken wir in grüne Täler
und auf apere Bergflanken. "Keine Angst, in Prägraten schaut der Schnee sicher noch ganz weit
herunter", immerhin hat mir der Herr vom Taxi-Service zur Johannishütte gesagt, dass man nur etwa die halbe Strecke dorthin
per Auto zurücklegen kann. Das wird dann ja wohl wegen der beginnenden, geschlossenen Schneedecke sein, oder? Am Parkplatz beim Gasthaus
Islitzer wartet bereits eine Gruppe Südtiroler auf das um 6 Uhr bestellte Taxi. Kein Fleckchen Schnee weit und breit, aber die
Anwesenheit einer weiteren Gruppe Tourengeher mit Schi beruhigt. Aber außer uns nur noch eine Partie Bergsteiger auf dem notorisch überlaufenen
Großvenediger?
Natürlich habe ich vor ein paar Tagen, als der Termin für unsere Tour endgültig fixiert wurde, auf dem Defreggerhaus, bzw. bei dessen Pächtern
wegen der Verhältnisse angerufen und einigermaßen überrascht vernehmen müssen, dass man seit etlichen Wochen (also seit Ostern)
nicht mehr auf der Hütte gewesen sei, keine Ahnung habe, wieviel Schnee da oben liege und auch sonst gar nichts vom Großvenediger wisse.
Nach dem Telefonat wunderte ich mich, wie man sich als Hüttenwirt nur das viele Geld der an der Hütte vorüberströmenden Tourengeher-Massen
entgehen lassen könne...
Der Blick aus den Fenstern des Taxis auf die unglaublich steilen Flanken des Dorfertals ist sehr beeindruckend.
Allerdings auch ernüchternd, weil ebenfalls fast schneelos. Nach etwa der Hälfte des Wegs zur Johannishütte stoppt das Taxi
wie angekündigt, jedoch nicht wegen meterhoher Schneewände, sondern wegen der desolaten Straße. Aber immerhin verrät uns der Blick auf
den sehr, sehr weit entfernt scheinenden Gipfel des Venedigers, dass wir die Schi nicht umsonst mitgenommen haben. Die Südtiroler und
wir bezahlen das Taxi, dann beuge ich mich hinunter, um bei den Schischuhen noch etwas zu richten, und als ich mich wieder aufrichte, entschwinden
die Südtiroler gerade unserem Sichtfeld. Und einer von ihnen, der das Pech hatte, dass er ebenfalls noch nicht ganz pronto war, läuft der Gruppe
hinterher. HG auf südtirolerisch, oder "akka - dschi", wie der Italiener sagt.
Nachdem wir die Schi etwa eine Stunde lang am Rucksack getragen haben, erreichen wir endlich die geschlossene Schneedecke, ca. auf Höhe der
Talstation der Materialseilbahn zum Defreggerhaus. Die Umgebung ist menschenleer, nur weit hinter uns erblicken wir noch eine
Dreierguppe, die aber dem Frosnitztörl zustrebt. Von den Südtirolern fehlt sowieso jede Spur. Im Altschnee sind noch Schiabdrücke erkennbar,
der Großvenediger wird zu dieser Jahreszeit also zumindest noch begangen. Mit Genugtuung stelle ich fest, dass wir die Harscheisen nicht
umsonst eingepackt haben, auf den steilen Hängen würden wir uns sonst wahrscheinlich genauso plagen und herumrutschen, wie es die besagte
Dreiergruppe unter uns offensichtlich tut.
Am Defreggerhaus müssen wir eine ausgiebige Pause einlegen, Beni und Stefan sind ziemlich erledigt und es ist zweifelhaft, dass wir so
überhaupt noch weiterkommen, vom Gipfel ganz zu schweigen. Es war vielleicht doch ein zu ehrgeiziger Plan, die ganze Tour an einem Tag
zu absolvieren? Ich denke mir, dass wir abbrechen müssen, wenn wir bis 12 Uhr den höchsten Punkt nicht erreichen, dann aber trifft es
mich wie der Blitz: ich bin für die Tour verantwortlich, ich
kann entscheiden, wie es weitergeht, und ich habe alle Zeit der Welt. Ein unglaubliches Gefühl
der Freiheit breitet sich aus, als wir nach einstündiger Rast und weiteren 100 Höhenmetern über das Mullwitzaderl den menschleeren Gletscher
des Mullwitzkees betreten. Die Verhältnisse sind immer noch ausgezeichnet und es gefällt mir, dass die ganze Verantwortung und alle
Entscheidungen bei mir liegen.
Stefan und Beni haben sich gut erholt und der relativ flache Gletscher fordert konditionell keinen allzu hohen Tribut. Zwar wird die Zeit zwischen
den kurzen Stehpausen oberhalb des Rainertörls immer kürzer, aber es steht fest, dass wir noch unterm Gipfelkreuz stehen werden.
Bevor wir den letzten Aufschwung erreichen, sehen wir eine Gruppe Bergsteiger abfahren, die offensichtlich von der Oberpinzgauer Seite von
der Kürsingerhütte aus aufgestiegen ist, aber nachdem sie unseren Blicken entschwunden sind, werden wir keine Menschenseele mehr auf den
weiten Gletscherflächen um uns erblicken. Ende Mai ist also doch ein großartiger Zeitpunkt, um auf den Großvenediger zu gehen. Dieses
saisonale Niemandsland zwingt einem zwar die Strapazen des Skitragens auf, aber dafür kann man hier heroben noch einmal die seltenen und
kostbaren Momente des Alleinseins erleben.
Um 14 Uhr steigen wir ohne Schi die letzten Meter zum Gipfel hinauf. Ich bin sehr stolz, auf mich, auf meine beiden Freunde, auf den ganzen Tag.
Schauts, von dort kommen wir her, da ist das Steinerne Meer, dort der Glockner,... seht ihr im Süden die Drei Zinnen?
Ja, sogar ein Blick in die Zinnen ist uns an diesem makellosen Tag vergönnt! Uns auf das, was uns noch bevorsteht, freuen wir uns ganz besonders:
obwohl es bereits so spät am Tag ist, hat sich auf dem Gletscher eine feine Firnschicht gehalten, die uns mit einer großartigen Abfahrt beschenkt.
Diese Schiabfahrt über den komplett planen, schneeweißen Gletscher
bedeutet das sprichwörtliche Glück des Tüchtigen und ist das Tüpfelchen auf dem i des heutigen Tages.
Ich könnte Jauchzen vor Freude, während ich in großen Schwüngen über den Gletscher flitze.
"Ch-ch-ch-ch-Changes" singt jemand in mir...
|