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Ich liebe den "Stallgeruch" der heimatlichen Berge, und es kostet mich jedesmal Überwindung,
in unbekannte Gefilde zu fahren und mich auf neue Ausblicke auf die Welt einzustellen. Im Fall
des Großvenedigers fällt die Entscheidung, mitzugehen, aber leicht, denn es bedeutet erstens eine große Verlockung,
einmal über 3500 Meter Höhe zu stehen, eine Höhe, die die Leoganger Steinberge zumindest bis zur
nächsten Alpenhebung nicht bieten können, zweitens will ich mir die Gesellschaft der von mir so sehr
geschätzten Freunde nicht entgehen lassen, und drittens kommt man nicht alle Tage in den Genuss der
kompetenten Planung und Führung durch Hermann. Firn gibt es in den Kalkbergen auch noch keinen, also
steht die sprichwörtliche Ampel auf grün, wir fahren am Samstag früh nach Osttirol zum Matreier Tauernhaus und gehen
auf die Neue Prager Hütte, von wo aus der Gang auf den Gipfel am Sonntag erfolgen soll. Das Packen des
Rucksacks stellt dabei schon eine Herausforderung dar, denn für gewöhnlich bin ich immer mit meinem Lawinen-Airbag
unterwegs, da brauch' ich nicht lang überlegen, was ich einpacken soll: ausser der Schaufel und der Sonde
hat höchstens noch ein paar Steigeisen oder eine Flasche Wasser darin Platz (was natürlich bedeutet, dass
ich bei den anspruchsvolleren Steinberg-Touren fast nie etwas zu Trinken bei mir habe). Diesmal habe ich also
Platz in Hülle und Fülle, denke ich mir, dank des roten Rucksacks, den ich beim Fotowettbewerb der Lawinenwarnzentrale Salzburg
gewonnen habe; eine Illusion, die sich erst als solche offenbart, als ich schließlich noch meinen Fotoapparat
darin verstauen möchte. Dass sich das nicht ausgeht macht aber nichts, denn meine schöne EOS 20D wird schließlich
sowieso am Hüftgurt befestigt, damit ich Lucky-Luke-gleich schneller als mein Schatten Fotos schießen kann.
Um circa 8 Uhr sind wir abmarschbereit beim Matreier Tauernhaus. Die Befürchtung, auf eine lange
Schlange von Tourengehern zu stoßen, bewahrheitet sich Gott sei Dank nicht, im Gegenteil, bis zur Prager Hütte
treffen wir keine Menschenseele, nur von fern können wir beobachten, wie uns noch vier oder fünf andere
Bergsteiger folgen. Der Weg zum Außergschlöss und weiter in's Innergschlöss ist wunderschön, man geht immer
entlang des Gschlößbachs dahin und kommt an malerischen Almhüttendörfern inmitten eines flachen Almbodens vorbei.
Entlang des Wegs trifft man dabei häufig auf die Ausläufer der Grundlawinen, die aufgrund des warmen Wetters von
den steilen Hängen links und rechts des Wegs in den letzten Tagen abgegangen sind - das ein etwas weniger
malerischer Anblick. Hermann hat den Zeitpunkt unseres Aufbruchs extra früh festgesetzt, damit wir der
Lawinengefahr aus dem Weg gehen; wie weise diese Entscheidung ist, werden wir bereits am Sonntag abend den
Nachrichten über die Verschüttung einer französischen Gruppe beim Anstieg zur Essener-Rostocker-Hütte
entnehmen können...
Wovor uns die frühe Stunde aber trotzdem nicht bewahrt, das ist die unglaubliche Wärme der frühlingsmilden
Luft. Sobald wir den flachen Boden hinter uns lassen und endlich Höhenmeter gewinnen, wird uns auch schon
schwitzend bewusst, wie anstrengend die kommenden Stunden werden. Zudem ist die Luft ein bißchen diesig,
sodass sich die Vorwärtsbewegung noch ein bißchen mühevoller anfühlt. Die gelegentlichen Trinkpausen - für die ich
diesmal gewappnet bin - kommen sehr gelegen und erlauben uns auch, die Höhenanzeigen unserer
Uhren zu vergleichen. Wir liegen alle erstaunlich nahe beinander, obwohl der eine seine Uhr zuhause in Leogang,
der andere beim Ausgangspunkt und der dritte erst irgendwo unterwegs eingestellt hat. Die schmerzliche Wahrheit, die sie
dabei ebenfalls verkünden, ist, dass es immer noch 600 Höhenmeter bis zur Neuen Prager Hütte sind. Die, sagen wir
großzügig, "gute Stunde", die wir dafür brauchen, führt jeden von uns knapp an seine Leistungsgrenze.
Die Neue Prager Hütte ist ein, man muss es leider sagen, etwas deprimierender Bau, zumindest wenn die
Fensterläden alle geschlossen sind. Das macht sie von aussen ebenso wenig einladend wie von innen. Ziemlich erschöpft
auf der Holzbank vor der Hütte sitzend ist uns aber die Architektur des Gebäudes wurscht, wir sind alle
glücklich, gut angekommen zu sein und uns den restlichen Tag entspannen zu können. Allerdings haben wir bei
dieser Annahme die Rechnung ohne Hias gemacht, der ziemlich unumwunden sagt, dass er auf keinen Fall die
kommenden Stunden auf der faulen Haut liegend hier verbringen wird. Zeit sei genug, um noch heute auf den
Großvenediger zu gehen, worauf sich der Andi im nämlichen Augenblick zum Ausruf hinreissen läßt:
»Wohi' megst' geh', auf'n Gipfe', oda wos!?«; aber soche Situationen sind bekannt: ist so ein Gedanke erst
einmal ausgesprochen, bahnt er sich seinen Weg dorthin, wo Vernunft und Wille sitzen, und stellt beide entsprechend ein.
Es dauert eigentlich keine fünf Minuten, bis wir uns einig sind, am Nachmittag die restlichen 800 Höhenmeter
anzupacken. Ob die Euphorie, die dieser nunmehr fest gefasste Entschluss verursacht, durch die Halbe Gösser Bier, die
uns von Hias beim Hüttenwirt beschafft wurde und nun von uns auf der sonnenbeschienenen Terrasse geleert wird,
hervorgerufen oder nur gesteigert wird, traue ich mich nicht zu sagen. Diese, und noch eine weitere Halbe Bier,
die zu Spaghetti Bolognese für
die einen, und einem enormen, selbsgemachten Käsebrot für den anderen konsumiert wird, gestatten uns schließlich,
uns mit erneuerten Kräften wieder auf den Weg zu machen.
Leider hat es inzwischen zugezogen, man kann den Kleinvenediger gar nicht mehr sehen.
Wir sind trotzdem motiviert und gehen in moderatem Tempo zum Anseilplatz, wo wir den Keesboden betreten.
Wir legen Gurt und Seil an und Hermann instruiert uns:»Wenn oana von enk in a Spoit'n foit, braucht er nix toa,
wei' eam de ondan aussaziagn; wenn i in a Spoitn foi, braucht's a nix toa, wei' i kim vo' alloa wieda aussa.«
Brauch' ma oiso nix toa, am Gletscher, supa!
Das gleichzeitige Gehen am Seil unterscheidet sich kaum vom normalen Gehen
mit Ski, höchstens dass man nicht mehr stehenbleiben kann, wann man will, und man bei den Spitzkehren mitdenken
muss, um den Vordermann nach dem Richtungswechsel nicht aufzuhalten und ihm auch nicht auf das Seil zu steigen.
Der eine oder andere Schneeschuh.- bzw. Steigeisengeher, oft ohne Begleitung und unangeseilt am Gletscher,
läßt uns den Kopf schütteln;
in meinen Augen ist das eine Art Free-Solo für Nichtkletterer, aber was versteh' ich denn auch schon davon...
Inzwischen hat uns der Nebel vollständig eingehüllt, sodass wir von unserer Umgebung gar nichts mehr sehen
können. Unser Führer gesteht auch, dass er nicht recht weiß, wo wir uns gerade befinden, aber eigentlich brauchen
wir immer nur hinauf zu gehen, um auf den höchsten Punkt zu kommen; ein Schluss, der sich für einen konvexen
Körper wie den Großvenediger ohne allzu großen mathematischen Aufwand auch beweisen lassen müsste. Die allgemeine
Müdigkeit tritt immer häufiger zu Tage, und ich zweifle schon, ob wir es überhaupt noch schaffen werden, bis sich
plötzlich der Nebel lichtet und vor uns das Kreuz auf der Spitze dieser ominösen 3667 Meter Fels und Eis
auftaucht. Es ist ein herrlicher Anblick und dankbar greife ich zur Kamera um Hermann davor abzulichten. Der
Zeitpunkt hätte nicht idealer sein können: wir fünf allein am Großvenediger, der Nebel gelichtet, sodass wir gute
Sicht auf die Welt, die uns zu Füßen liegt, haben, dazu noch das weiche Licht der tiefstehenden Sonne. Viel Zeit
können wir uns hier heroben aber nicht gönnen, denn wir haben Angst, dass der Nebel jederzeit wiederkommen und
die Abfahrt dann sehr erschweren könnte, also schnallen wir nach 10 Minuten an und machen uns an die Fahrt zurück
zur Hütte. Gott sei Dank bleibt uns die gute Sicht aber erhalten, sogar der Schnee ist im oberen Bereich gar nicht so
schlecht, sodass wir schnell Höhenmeter verlieren um auf den unteren Teil des Gletschers zu kommen - dort gibt es
dann aber, wie befürchtet, Bruchharsch.
Zurück auf der Hütte bezahle ich schließlich doch noch den Preis für die Anstrengungen des heutigen Tages.
Mir ist einigermaßen schlecht und nur mit Überwindung folge ich den anderen in die Gaststube der
Hütte, wo Gulasch und Bier auf die Nicht-Vegetarier und Gott sei Dank nichts auf mich warten. Die
Freundin/Frau des offenbar deutschen Hüttenpächters ist ein bißchen verwirrt, dass fünf Leute am Tisch sitzen,
aber nur vier davon ein Essen bekommen. Ob der Übelkeit erkläre ich ihr lustlos und ziemlich unzusammenhängend
dass ich Vegetarier sei und dass es "scho' OK" sei; aber kaum 10 Minuten später
habe ich ein Teller mit Nudeln und
Gemüse vor mir stehen, für das ich einen Essens-Chip hergeben soll, den ich natürlich nicht besitze. Ich sage,
dass ich nichts essen könne, weil mir flau im Magen sei, worauf sie mich in der vollen Gaststube nicht gerade
leise und dezent fragt, ob sie mir einen Kübel hereinstellen solle. Gestern hätten sie genau so einen Fall
gehabt, da wurde dann vor die Tür in's Freie gekotzt, genau da, wo sie immer den Schnee für ihr Wasser hernehmen.
Ich wehre den Kübel ab (klar geh' ich im Fall des Falles in's Freie, wohin denn sonst!), und werde noch einmal
scharf von der Hüttenwirtin fixiert, bevor sie wieder zurück in die Küche geht.
Dann zwinge ich mich, einen Bissen zu essen, aber auch ohne Übelkeit
hätte ich diese Nudeln nicht runtergebracht. Beim Abservieren des halbvollen Tellers (Hias hat sich erbarmt und ein
paar Gabeln davon gegessen) muss ich nocheinmal Gründe angeben, wieso das Essen, "das extra für die Vegetarier
gekocht worden ist", nicht aufgegessen habe. Ich sage noch einmal, dass mir schlecht ist,
sie meint jedoch darauf nur ungerührt:»Aber bezaahlen mussd'de das Essen trotzdem!«
Na ja, 8,50€ um ein Gericht nicht zu essen, das ich gar nicht
angeschafft habe... Aber eigentlich ist die Hüttenwirtin sonst ganz nett, ich will ihr wirklich nicht
Unrecht tun. Und nach einer Stunde kehren Durst
- und leider auch der Appetit - endlich wieder zurück, sodass wir doch noch vollständig
auf unsere Venediger-Besteigung anstoßen können.
Nach einer wirlich sehr erholsamen Nacht erwartet uns ein Bilderbuchtag. Um Punkt 7 Uhr, wie vom Hüttenwirt
verordnet, und keinen Widerspruch duldend, verzehren wir das Frühstück um 7,50€:
ein Kaffee, drei Scheiben Brot, drei Blattl
Wurst, ein Blattl Käse, Butter, Marmelade, einen Löffel Nutella und Honig... es ist also wirklich Wirtschaftskrise!
Die große Anstrengung vom Vortag steckt noch in den Knochen, allerdings fallen die Schritte leichter als erwartet.
Später, im Tal, wird angemerkt, dass wir die erste halbe Stunde (unter meiner Führung) recht flott unterwegs sind.
Zu meiner Rechtfertigung darf ich aber anführen, dass mir der Hermann von Zeit zu Zeit auf die Skienden steigt, was
mich zur Annahme verleitet, dass ich zu langsam bin und ein etwas flotteres Tempo einschlage. Auf jeden Fall stehen
wir bald am Punkt unserer Abfahrt auf das Viltragenkees. Es ist wieder einmal ein spannender Moment, denn unter uns
befindet sich doch noch etwas Gletschereis und wie sich die Abfahrt um untersten Drittel gestaltet kann man von
heroben aus nicht sehen. Hermann macht uns den Mund wässrig mit der Möglichkeit, auf
den Nordhängen noch auf Pulver zu stoßen, aber dann ist es doch nur Bruchharsch, in dem wir mühevoll
unsere Kurven - ehrlicherweise muss man sagen: Ecken - ziehen.
Es sind 600 sehr mühsame Meter bis auf
das Kees tief unter uns. Dort fellen wir dann wieder auf und machen uns an den Aufstieg auf den Seekopf. Der Seekopf
ist ein Kompromiss, da wir einerseits müde sind, und andererseits aber auch nicht mehr ganz früh unterwegs
sind. Hier sind wir nun wirklich ganz
allein, ich weiss nicht, wieviel Tourengänger sich im Winter in diese Ecke der Venedigergruppe verirren. Schon beim
Anstieg stellen wir uns auf wunderbare Firnverhältnisse für die Abfahrt ein.
Die letzte Viertelstunde auf den Gipfel entwickelt sich zu einem Wettrennen, das hatten wir ohnehin schon längere Zeit
nicht mehr. Dass es sich um ein Rennen handelt kann man leicht daran feststellen,
dass es plötzlich keine Gruppendisziplin mehr gibt und jeder sich auf dem harten Untergrund seine eigene Spur
nach oben sucht. Gewinnen tut das Rennen übrigens Andi, der die beste Linie findet und ohne Umwege am höchsten
Punkt ankommt. Die Abfahrt hält dann auch, was sie bereits beim Aufstieg versprochen hat: steile Hänge und wunderbarer
Firn. Ganz unten verwandelt sich der Schnee zwar bereits in tiefen Sulz, aber da sind wir schon wieder fast im Innergschlöss.
Keine Stunde zu früh, denn die ersten Schneerutsche machen sich um diese Zeit schon bereit zum Abgehen.
Während der Abfahrt nehme ich mir nicht einmal Zeit für ein Foto, viel zu schön sind die großzügigen Schwünge an diesen Hängen.
Wieder auf den Boden der Tatsachen zurück holt uns erst die Weite des flachen Talbodens, den wir schiebend und mit
Schlittschuh-Schritten bewältigen müssen. Noch einmal wird unsere Kondition auf die Probe gestellt,
aber der Rückweg stellt sich als gar nicht
so fürchterlich anstrengend heraus und kurz nach Mittag sind wir wieder beim Tauernhaus und verstauen unsere Skitouren-Sachen
in Hermanns Auto. Zwei großartige Tauern-Touren enden an diesem Punkt und inzwischen glaube ich sogar,
auch in der Venedigergruppe
ein bißchen "Stallgeruch" wahrnehmen zu können.
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