Eintrag in's Gipfelbuch der Torsäule: Zeit zum Atmen
Sigrid am Rocher Baron
Der Fahrplan durch unsere Route.

Zeit zum Denken - Zeit zum Atmen

"Zeit zum Atmen", was für eine mächtige Phrase, die Reinhard Karl da vor mehr als 30 Jahren niedergeschrieben hat.

Dann sieht man schon den Gipfel, du weißt, du bist gleich oben, erstaunlich leicht fällt jetzt das Atmen, das Kopfweh, das sich gewöhnlich bei mir in der Höhe einstellt, ist verschwunden. Diese letzten Schritte, ja, die tun richtig gut. Und dann oben. Zeit zum Atmen, Zeit zum Sehen, Zeit zum Staunen.

Nach dem 15.August 2013 war es für mich Zeit, Reinhard Karls Buch wieder einmal zu lesen. Erst jetzt fällt es mir auf, wie wichtig er, der 14-jährige Automechanikerlehrling aus Heidelberg, der zum Bergsteiger wurde, um der Dumpfheit der dunklen Autowerkstatt in's Leben zu entfliehen, und der es dann 35-jährig ausgerechnet in den Bergen, am Cho Oyu, verlor, für meinen eigenen Weg eigentlich war und wieviel er mir heute immer noch zu sagen hat. Oder besser gesagt: wie wichtig seine Fotos und Texte dafür waren und wie zeitlos beide sind.

In der Unterstufe am Gymnasium, da wollte ich Kletterer werden und hatte öfter einmal in der Früh noch schnell ein-zwei archivierte Alpinismus, Bergwelt oder Der Bergsteiger Hefte von den Bergmagazin-Stapeln meines Vaters geschnappt und war damit in die Schule gefahren. In einer Ausgabe des Alpinismus stießen ich und Hansi, mit dem ich den Werdegang zum Kletterer gemeinsam absolvierte, im Warteraum des kleinen Hüttener Bahnhofs, als der Zug wieder einmal größere Verspätung hatte, auf einen von Reinhard Karls Fotoberichten über das Klettern im kalifornischen Yosemite-Valley. Wie haben wir diese Bilder in uns aufgesogen: rote Seile, die über goldene Granitplatten und -risse steil nach oben zu einem Kletterer in weißen Malerhosen liefen. Tiefblicke aus den Bigwalls am El Cap. Ich glaube, die Bilder im Playboy hätten uns damals nicht mehr anziehen können (wobei die Möglichkeit, zu einem Playboy zu kommen, in Hütten seinerzeit noch mehr außer Reichweite lag als Kalifornien.) Mein Sitznachbar in der Schule, der Rainer, mit dem ich das Magazin dann noch einmal durchging, war zu diesem Zeitpunkt schon ein echter Kletterer. Gemeinsam mit Claus und einer ganzen Schar Saalfeldener Jugendlicher fuhr er regelmäßig in den Militärklettergarten und versuchte sich dort an den schwierigsten Touren. Rainer wußte zwar auch nicht, wie man "Yosemite" aussprach (wir einigten uns eine Zeit lang auf "Dschoosmait"), aber er hatte dafür Reinhard Karls Buch "Zeit zum Atmen" daheim und lieh es mir.

Die meisten verbringen hier den ganzen Sommer. Faul sein ist hier eine wesentliche Voraussetzung, um ein guter Kletterer zu werden. Die fünf Lebensessentials, mit denen sie den Tag knacken, sind in der Reihenfolge der Wichtigkeit: 1. Klettern, 2. Sonnenbaden, 3. Essen, 4. Drogen, 5. Frauen. Das Wort »Arbeit« kommt nicht vor.

Viele Jahre später, aber andererseits auch wieder vor vielen Jahren, haben Hias und ich uns die "Zeit zum Atmen" in den Kopf gesetzt, genau genommen seit unserem ersten Besuch auf der Torsäule, als wir gemeinsam mit Sabine, spät im Oktober 2005, einen unvergesslichen Tag dort verbracht haben. Viele Pläne für gemeinsame Routen haben wir damals geschmiedet, in unseren Köpfen geblieben ist nur dieser. Nicht dass "Zeit zum Atmen" auf der Torsäule außergewöhnlich schwierig oder besonders gefährlich wäre; was sie so schwer erreichbar für uns machte, war, dass wir nur unter der Voraussetzung einsteigen wollten, dass wir sie beide in anständigem Stil klettern können, d.h. in Wechselführung und wenn vielleicht schon nicht on sight dann doch zumindest alles frei. Hias war damals am Sprung in den oberen achten Grad und beim Sportklettern richtig fanatisch, so bissig, dass er sogar bei schlechten Bedingungen Durchstiegs-Versuche in der "Optimismus" im Unteren Wunderland machen wollte. Aber auch in diesem starken Jahr 2007 war die Zeit für unseren Plan noch nicht reif, für die "Zeit zum Atmen" hätte diese Form noch nicht gereicht - dachte er.

Was folgte waren Jahre, die uns von der Tour eher weiter weg als näher hin brachten: das Drängen nach höheren Schwierigkeitsgraden ließ nach und machte dem Plaisirklettern wieder Platz, dann erstickten Wochenenden mit schlechtem Wetter jeden Plan einer Begehung im Keim, und immer mehr machten volle Terminkalender unserem Traum, zur Torsäule zurückzukehren, einen Strich durch die Rechnung. Und schließlich 2010 der vorläufige Tiefpunkt, eine Verletzung, die schweres Klettern gar nicht mehr zuließ. An jedem Silvester fassten wir den Vorsatz, das kommende Jahr die Zeit und den Atem für "Zeit zum Atmen" zu finden. Wir stießen auf die Verwirklichung des Traums an und tranken eigentlich die Enttäuschung über seine Fortschreibung in's nächste Jahr hinunter.

Das Haus gleicht einem Wartesaal für frustrierte Bergsteiger. Seit zwei Monaten ständiges Warten auf irgend etwas Bestimmtes, was nie eintritt, läßt selbst den Hoffnungsvollsten müde erscheinen […] Ein amerikanischer Logikprofessor, Don Peterson, und der Holzfäller Tom wollen die Unlogik am Torre studieren. Der Weg der Erstbesteigung ist ihr Ziel, wie hoch ist Maestri wirklich gekommen? Nur sechs Seillängen an dem Riesenberg gelangen ihnen in zwei Monaten. Nicht viel für eine Wahrheitsfindung.

Ich habe, ehrlich gesagt, die “Zeit zum Atmen” schließlich abgeschrieben. Den Anspruch an uns selbst, erst einzusteigen, wenn wir der Tour beide gewachsen wären, haben wir nie aufgegeben, aber wir konnten ihm auch nicht mehr gerecht werden. Und die Tour bei passender Gelegenheit ohne Hias zu klettern kam nie in Frage, das hätte sie für mich vollkommen entwertet. In der Zwischenzeit sind wir andere Routen geklettert, die um nichts weniger schwierig waren als die “Zeit zum Atmen” und uns auf's Äußerste forderten. Wir kletterten diese Touren nicht unbedingt immer als ausgewogene Seilschaft, und ich hatte bei vielen von ihnen sicher mehr Spaß, sie zu klettern, als Hias. Er hat sich aber immer zurück genommen und mich trotzdem begleitet. Inzwischen konnten wir die Tage eines Jahres, wo wir gemeinsam zum Sportklettern oder zu einer Mehrseillängen-Route kommen, schon fast an einer Hand abzählen, und eine “anständige” Realisierung unseres Klassikers an der Torsäule rückte damit in immer größere Ferne.

»Ich sehe keinen Berg mehr«, sagt Jean Afanassief, französischer Bergführer. Drei Monate haben die Franzosen das Spiel mitgemacht, zehn mal zum Torre hochgerannt mit schweren Rucksäcken und mit noch mehr Hoffnung. Nein, sie sehen keine Berge mehr, sie geben auf.

Die überraschende Wende kam wenige Tage vor Mariae Himmelfahrt. In einer äußerst knapp gehaltenen Mitteilung fragte Hias, ob wir “Zeit zum Atmen” am Wochenende angehen würden. Aus irgend einem Grund jagte mir die Kürze des Texts und seine Unvermitteltheit einen ziemlichen Schreck ein: in meinem Fall entstehen große Vorsätze oft aus der puren Verzweiflung heraus, als Fluchtpläne vor deprimierenden Ereignissen oder Umständen. Der erste Gedanke war dementsprechend: es ist etwas passiert. Hias hat sich getrennt, entweder von seiner Arbeit oder aber von seiner Freundin. Die Aufregung legte sich aber recht schnell, es gab keinen Vorfall, der Hias zu einer selbstmörderischen Handlung bewegt hatte. Eigentlich war eher das Gegenteil der Fall. Die Erkenntnis, dass, wenn wir nicht jetzt zur Tat schreiten würden, wir die Tour wahrscheinlich nie mehr klettern würden, hat Hias die Initiative ergreifen lassen. Obwohl ich wusste, dass ich unserem Projekt gewachsen war, wurde ich nach gegebener Zusage nervös, immerhin hatte ich einmal gehört, die Route hätte weite Hakenabstände. Außerdem war angeblich vor nicht allzu langer Zeit ein Kletterer mit einem ausgebrochenen Henkel in der Hand knapp vor dem Stand abgeflogen und hatte sich zig Meter tiefer knapp oberhalb seines Sicherers wiedergefunden. Mit gehörigem Respekt stiegen wir deshalb am Feiertag bei gar nicht so idealen Verhältnissen nach langer, langer Zeit wieder zur Torsäule auf, um einen Traum einzulösen.

Im Nebel sitzend warteten wir auf die versprochene Sonne, aber über das Warten vergingen höchstens die Minuten und Stunden und nicht die Wolken. Es hatte ohnehin schon eine Zeit gedauert, bis wir uns des richtigen Einstiegs versichert hatten. Das Routennetz an der Torsäule ist schon so dicht, dass einen 5 Meter weiter links oder rechts auf eine ganz andere Kletterlinie bringen. Trotz klammer Finger brachen wir schließlich in “unsere” Tour auf. Es ging also endlich los, und die erste Seillänge bestätigte auch sogleich eine immer wiederkehrende Erfahrung: in den ersten zwei, drei Seillängen sind Erstbegeher ziemlich mutig, da gibt es weite Hakenabstände und schlechtes Material. Je weiter nach oben es geht, umso zahlreicher und nervenschonender gesetzt werden für gewöhnlich die Bohrhaken. Das Anklettern des ersten Schlaghakens über einer schwindligen Sanduhr untermauerte diese oft gemachte Beobachtung. Die Nagelprobe bestanden wir allerdings schon beim ersten Stand. Hias musste die folgende Seillänge im achten Grad vorsteigen, nicht zuletzt wegen dieser Wechselführungs-Stil-Frage hatten wir uns die Tour all die Jahre aufgehoben. Er zögerte zwar kurz, aber dann hängte er sich den kleinen Bund Keile an den Gurt und startete los in diese Platte aus unbeschreiblichem Hochkönig-Kalk.

Mein Kletterpartner Tom ist ein typischer Kletter-Freak. »Freak« heißt eigentlich Mißgeburt. Das gibt seine Lebenseinstellung nicht richtig wieder. Er ist ein Felsfanatiker.[…] »Kannst du einen einarmigen Klimmzug?« - »Was ist denn das? Für was soll man das denn brauchen?« Er kann fünf mit jedem Arm. Dabei ist er kein Body-Building-Gorilla à la Arnold Schwarzenegger. Seine Muskeln sind nicht zur Schau da, sondern nur zum Zupacken am Fels.

Hias hatte den Tag für uns gerettet. Es war nicht wichtig, diese Seillänge on-sight zu klettern, entscheidend war, es zumindest zu versuchen, die Angst vor der Schwierigkeit und dem Stürzen im Zaum zu halten. Die beiden Schiedsrichter Moral und Ethik griffen deshalb auch zur weißen anstatt zur roten Flagge, der Versuch war gültig und wir hatten uns für den Hauptbewerb, für die restlichen fünf Seillängen, qualifiziert. Im Ring warteten nur noch wir selbst als unsere einzigen Gegner, nichts und niemand hätte uns heute mehr ausknocken können. Nach der zweiten Seillänge war es für uns beide daher in Ordnung, die “Zeit zum Atmen” in der Weise weiterzuklettern, wie sie uns als Seilschaft am leichtesten fiel.

Es mag ein Zeichen des Alters sein, dass mich an den Ausstiegen unserer Touren seit geraumer Zeit die Sentimentalität anfliegt. Natürlich herrschen die Gefühle Freude, Stolz und Erleichterung vor, aber sie sind gewürzt mit einer starken Prise Melancholie. Am höchsten Punkt der Torsäule hätte ich gern das Gipfelbuch aufgeschlagen, wo wir uns das erste mal nach dem “Hiatamadl” eingetragen hatten, aber dieses Buch ist schon längst vollgeschrieben und lagert jetzt auf irgendeinem Dachboden - bestenfalls. Es wäre schön gewesen, wenigstens schriftlich dort anzuschließen, wo wir vor vielen Jahren unterbrochen haben. Aber wozu eigentlich? Wahrscheinlich haben wir ja unbewusst ohnehin damals schon mit der Torsäule und mit unseren gemeinsamen Touren abgeschlossen und sind nicht einfach nur in eine weitere Winterpause gegangen. Vielleicht hätte ich mir am Gipfel auch eine Art Befreiung gewünscht. Vielleicht hat der Name der Tour eine viel stärkere Anziehungskraft besessen als diese sieben zugegebenermaßen wunderschönen Seillängen mitten im Hochkönig-Gebiet. “Zeit zum Atmen”, Befreiung aus dem Würgegriff aller Zwänge, die die Arbeitswelt, die Konsumwelt, die Gesellschaft, ja die Zeit selbst und ihr unerbittliches Fortschreiten auferlegen!

Wie es dem Hias nach der Verwirklichung unseres Projekts ging, habe und wollte ich nicht herausfinden. Es wird wohl auch bei ihm so wie bei mir die Freude und Befriedigung über die geschaffte Tour und das Erreichen unseres Ziels überwogen haben. Aber beim Abstieg war er es, der mich darauf aufmerksam machte, dass es von Reinhard Karl nicht nur das im Klang seiner Worte so befreiende “Zeit zum Atmen” gibt, sondern noch ein weiteres, geflügeltes Wort, das nachdenklich stimmt und eigentlich die Kapitelüberschrift der Erzählung über seine Everestbesteigung - der ersten eines Deutschen, übrigens - ist:

»Wirklich oben bist du niemals«

Langsam kommt nach der Freude die Traurigkeit, ein Gefühl der Leere: Eine Utopie ist Wirklichkeit geworden. Ich ahne, daß auch der Everest nur ein Vorgipfel ist, den wirklichen Gipfel werde ich nie erreichen.


Die Zitate sind dem Buch von Reinhard Karl “Faszination Berg: Zeit zum Atmen”, ©Limpert Verlag, Bad Homburg entnommen.

Hias vor Torsäule

Heißes Blut und kalte Finger

Einlösung eines selbstgegebenen Versprechens

Easy - Not so easy!

Zeit zum Staunen

Zeit zum Denken

Zeit zum Atmen

Über das “Portal” führt der Weg zum Ziel
Hundshörndl
Ausgesetzt ist, wer sich einsetzt!

Zeit zum Bier-Trinken

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