Mordor

Anlauftal, Gasteiner Eisarena


Leicht verzerrt weil von unten fotografiert: die mächtige Eisspur Mordors.
"Booiiing - Booiiing - Booiiing" - unglaublich, wie sich 6 Millimeter Reepschur dehnen können, ohne zu reißen. Während Flo sich an meiner ersten selbstgebauten Eissanduhr vom sonnenbeschienenen und freundlichen, flachen Ausstieg des Mordor in die schattige, 300 Meter tiefer liegende, eisige Welt des Gasteiner Anlauftals abseilt, werfe ich scharfe Blicke auf dieses Stück Schnur, an dem wir beide hängen. Unser Leben am seidenen Faden, sozusagen. Natürlich haben wir noch eine zusätzliche Eisschraube als Hintersicherung ins Eis gedreht, man weiß ja nie, aber sobald ich meine Abseilfahrt beginne, muss ich diese Eisschraube mitnehmen, und dann hängt wirklich alles nur mehr an ein paar Litzen Polyamid und Polyethylen. Jedesmal, wenn Flo sich am Eis abstößt, ein Stück am Seil hinabfährt und wieder abbremst, wird die Reepschnur einige Millimeter länger und dann wieder kürzer, ein faszinierender, grausiger Anblick. Unzählige Manöver dieser Art von tausenden Seilschaften während des ganzen Winters an noch dünneren Reepschnüren und zahlreiche Tests unter Laborbedingungen sagen uns, dass das hält. Und doch bleibt der Hauch eines Zweifels: "Booiiing - Booiiing - Booiiing"

Hier in der Sonne fühlt es sich ganz wunderbar an. Nach 4 1/2 Stunden, während derer ich ständig auf den Frontalzacken meiner Steigeisen gestanden habe, kann ich endlich wieder, wenn auch nur für ein paar Minuten, auf der ganzen Sohle stehen. Ich kann sogar den Fuß nach außen drehen, ohne sofort abzurutschen, herrlich! Beim Felsklettern kann man immer wieder einmal entspannen, entweder auf Felsabsätzen oder auch am Standplatz. Natürlich gibt es auch die Hängestände, die unbequem sind und wo man heilfroh ist, wenn man sie endlich verlassen kann. Oft aber laden dafür auch Graspolster den müden Kletterer dazu ein, die Kletterpatschen auszuziehen und den eingezwängten Füßen etwas Freiheit zu gönnen, während der Seilpartner gesichert wird. Und nicht selten kann man sich dabei auch noch auf einen Felsvorsprung setzen. Aber im Eis ist das meistens anders: selbst wenn man sich hinsetzen könnte, wer möchte schon freiwillig sein Hinterteil eine halbe Stunde auf eine Eisplatte pressen? Sich auf den Knien abzustützen ist auch eine schlechte Idee - sagen die Knie. Und man kann sich auch nicht einmal auf die Seite drehen, weil der seitwärts gedrehte Fuß kaum ein Eindringen der Zacken ins Eis erlaubt.

Momente der Entspannung sind beim Eisklettern selten, irgendwie ist immer alles auf Anspannung, was die Materie gefrorenes Wasser einfach mit sich bringt. Man stelle sich eine leicht hängende Straße bei Glatteis vor und man merkt sofort, wie der ganze Körper sich anspannt, um nicht auszurutschen und hinzufallen. Ich erinnere mich an einen dreitägigen Aufenthalt in Lemberg Anfang Dezember. Die Gehsteige der Stadt waren eine einzige Eislaufbahn, keine Splitstreuung nirgendwo (was die ukrainische Damenwelt übrigens nicht davon abhielt, in Stöckelschuhen mit unglaublich hohen Absätzen durch die Straßen zu flanieren!) Die obligate Stadtbesichtigung verband sich dadurch zu einem koordinativen Ganzkörperkrafttraining, wovon der Muskalkater am folgenden Tag Zeugnis ablegte. Die Lemberger Bevölkerung muss sich im Frühjahr großer körperlicher Fitness erfreuen.
Gehen auf Eis fordert also höchste Körperspannung, daran ändert sich auch nichts, wenn die Straße auf 90° aufgestellt wird und man dafür Steigeisen und zwei Eisäxte in die Hände gedrückt bekommt. Der Unterschied ist der, dass das Ganze dann aus mysteriösen Gründen beginnt, Spaß zu machen.

Eigentlich hatte ich nicht damit gerechnet, in dieser berühmten Eisroute noch eine Eissanduhr fädeln zu müssen. Und müssen hätte ich vielleich auch nicht, aber angesichts der von einer früheren Seilschaft am Ausstieg zurückgelassenen Reepschnur, die zweifach um die dürren Äste einer kargen Staude gewickelt wurde, drängt sich ein eigener, etwas soliderer Abseilstand förmlich auf. Vorsichtshalber habe ich mir während der einstündigen Fahrt ins hinterste Gasteinertal in Flos Auto mit Hilfe einer Kombizange aus einem Kleiderbügel einen entsprechenden Haken gebogen, der sich hier auch gleich wunderbar bewährt. Natürlich ist mein Eissanduhrfädler nicht so elegant wie jener, der an Flos Gurt hängt; er hat ihn sich aus einer gebrauchten Waschbecken-Armatur gebastelt und sieht fast wie gekauft aus, auch wenn er einen im ersten Moment an eine kaputte Autoantenne denken lässt.

Nach drei Abseiletappen sind wir noch immer nicht zurück am Einstieg, dafür befinden wir uns aber jetzt unterhalb einer tschechischen Seilschaft, die sich dem Ausstieg zu bewegt. Diese Situation stimuliert mein sympathisches System ganz gewaltig, und meine Reaktion ist eindeutig "flight" statt "fight", immerhin fliegen jetzt genügend Eissplitter durch die Luft, die einen schmerzhaft treffen können und die Angst vor einer größeren Eisscholle lässt mich dauernd nach oben schauen. Ich bin den Tschechen über uns dankbar, dass sie sich offenbar ehrlich bemühen, so wenig Eis als möglich bei ihrem Fortkommen aus dem Eis Mordors heraus zu hacken. Sobald wir aber am Fuß des Eisfalls angekommen sind und uns ein paar Schritte aus dem Bereich der Eissplitter hinausbewegt haben, gewinnt der Parasympathikus oberhand und belohnt mich mit großer Ruhe und der Gewissheit, sicher zu sein und endlich ausrasten zu dürfen.

Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich so schnell auf das Abenteuer "Mordor" einlassen und ihm auch so gut gewachsen sein würde, denn viel Zeit im Eis habe ich noch nicht verbracht. Daher bin ich meinem Freund Flo unendlich dankbar, dass er in Sachen Eisklettern nicht locker gelassen hat und mich einigermaßen spontan für diese Reise motiviert hat. Schade, dass die Eissaison für uns dieses Jahr vermutlich gelaufen ist, Mordor hat uns einen gewaltigen Schwung mit auf den Weg gegeben, den wir gern in dem einen oder anderen Ziel ausgenützt hätten. Nur dass uns nach Mordor blöderweise kein Ziel mehr für dieses Jahr einfällt. Aber hoffentlich hält das Selbstvertrauen, das wir dort gewonnen haben, auch nächstes Jahr noch an.

Danke für die Fotos an Michl Kraeftner und Christopher Draxler, die den Tag in Mordor mit uns geteilt haben und ebenfalls sehr umsichtig mit der Materie Eis umgegangen sind. Ihre Eindrücke und sogar ein Video ihrer Begehung von Mordor findet man auf bergtraum.at.


Souverän und doch bedächtig: Flo, wenn er sich auf gefrorenem Wasser bewegt. ©Michl Kraeftner

Ab jetzt zählt es: 50 Meter WI 5. ©Michl Kraeftner

Der Spender dieser schönen Fotos: Michl Kraeftner in der blauen Glaswunderwelt der Gasteiner Eisarena. ©Michl Kraeftner

Was ist "steil"? Alles nur eine Frage der Perspektive. ©Michl Kraeftner

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